Warum Hongkong trotz der Brandgefahr mit Bambusgerüsten baut
Noch immer loderten Flammen aus vereinzelten Fenstern des Wang-Fuk-Wohnkomplexes. Selbst am Donnerstagabend (Ortszeit), mehr als 24 Stunden nachdem das erste der Hochhäuser zu brennen begonnen hatte, war das Feuer nicht gelöscht. Ob es die schwerste Brandkatastrophe in der Geschichte Hongkongs ist, steht noch nicht fest: Inzwischen sind mehr als 65 Tote bestätigt, doch rund 300 Menschen werden weiterhin vermisst.
Wie der Brand entstand, ist weiter unklar. Die Ursache dafür, dass er sich so rasend schnell ausbreiten und auf die umliegenden Wolkenkratzer übergreifen konnte, steht dagegen fest: Alle acht Häuser des Wang-Fuk-Komplexes waren wegen Sanierungsarbeiten in die für Hongkong typischen Bambusgerüste eingehüllt gewesen. Ein Brandbeschleuniger, wie etliche internationale Experten betonen.
Ein verzweifelter Mann vor dem Großbrand im Wang-Fuk-Wohnkomplex.
Warum also setzt ausgerechnet Hongkong, eine der modernsten Metropolen der Welt, auf Bambus- statt Stahlgerüste beim Bau von Hochhäusern?
Eine Baukunst mit jahrhundertealter Tradition
Tatsächlich ist Hongkong einer der weltweit letzten Orte, in dem die teils Hunderte Meter hohen Bambusgerüste noch zum Stadtbild gehören. Sie entstammen einer alten chinesischen Tradition - mithilfe von Bambusgerüsten wurden nicht nur Paläste und Tempel auf dem Festland, sondern auch die Große Mauer gebaut. Heute kommen in der Volksrepublik vor allem Stahlgerüste zum Einsatz.
In Hongkong erzählt man sich dagegen, die händisch zusammengebundenen Bambusrohre seien besser vor Wind und Wetter geschützt. Sie würden das Regenwasser aufnehmen statt zu rosten, ihre leichte Elastizität würde sie auch in der spätsommerlichen Taifun-Saison nicht brechen lassen.
Die Bambusstangen werden bis heute in traditioneller Handwerkskunst von sogenannten "Spinnen"-Arbeitern zugeschnitten und händisch zusammengebunden.
Experten nennen andere Gründe: "Bambus ist leicht und einfach zu schneiden. Damit eignet er sich gut für die beengten Wohnverhältnisse in Hongkong", sagt der Brandschutzexperte Xinyan Huang von der Polytechnischen Universität Hongkong zu Al Jazeera.
Die "Spinnen" von Hongkong: Letzte Meister eines gefährlichen Handwerks
Dahinter steckt aber auch eine traditionelle Handwerkskunst: Rund 4.000 vor allem ältere Bambusgerüstbauer, von den Einwohnern "Spinnen" genannt, sind heute noch in der Baubranche tätig. Sie schneiden die Stangen zu und binden sie händisch zu komplexen Gittergerüsten zusammen. Darüber befestigen sie lange gewaltige Netze aus Nylon, die herabfallenden Bauschutt auffangen sollen.
Das ist in erster Linie billiger als der Auf- und Abbau von Stahlgerüsten. "Die Arbeiter tragen die Stangen von Hand, damit können sie auch schwer zugängliche Fassaden ohne Kräne verkleiden", sagt der australische Bauforscher Ehsan Noroozinejad im Gespräch mit dem Guardian. "Diese Schnelligkeit und Flexibilität ermöglicht viel niedrigere Kosten."
Eine "Spinne" bei der Arbeit auf einem Bambusgerüst in Hongkong.
Aus Sicht vieler Hongkonger sind die grünen Gerüste damit genauso einzigartige Merkmale der Stadt wie die schmalen, zweistöckigen Straßenbahnen und die roten Doppeldeckerbusse aus der britischen Kolonialzeit. Seit der Übergabe Hongkongs an China 1997 werden diese Aspekte des Stadtbilds Schritt für Schritt verdrängt. In persönlichen Gesprächen äußern Bewohner oft die Sorge darüber, Hongkong würde seine Kultur verlieren.
Nach dem Brand scheint das Ende der Bambusgerüste besiegelt
Auch den Bambusgerüsten hat Peking längst den Kampf angesagt. Schon im März hatte die Regierung Hongkongs erklärt, dass künftig bei der Hälfte aller neuen Bauaufträge Stahlgerüste eingesetzt werden müssen. Als Begründung nannte man damals noch die Gefahr für die "Spinnen": Zwischen 2018 und 2024 starben 22 Arbeiter, weil sie von Bambusgerüsten fielen.
Die Brandkatastrophe im Wang-Fuk-Wohnkomplex dürfte das Ende der Hongkonger Bautradition besiegelt haben. "Meiner Ansicht nach bot das Bambusgerüst dem Feuer die Möglichkeit, daran 'emporzuklettern'. Durch die große Hitze entzündeten sich dann verschiedene Brennstoffquellen in den Wohnungen", so Huang.
Der noch immer brennende Wang-Fuk-Wohnkomplex am Donnerstagabend (Ortszeit).
Hongkongs Behörden scheinen zum selben Schluss gekommen zu sein. Noch am Donnerstag wurden zwei Direktoren und ein beratender Ingenieur des mit der Sanierung beauftragten Unternehmens verhaftet.
Während das Feuer noch loderte, erklärte Hongkongs Regierungschef John Lee, er wolle noch in dieser Woche gemeinsam mit Vertretern der Bauindustrie besprechen, wie Bambusgerüste schrittweise abgeschafft werden und Stahlgerüste künftig vorgeschrieben werden könnten. Alle zurzeit noch stehenden Bambusgerüste würden zudem "umfassend auf die Brandsicherheit der Baumaterialien" überprüft.
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