"Hilflose" Antwort der EU - Pressestimmen zu Erdogans Syrien-Offensive

"Hilflose" Antwort der EU - Pressestimmen zu Erdogans Syrien-Offensive
Scharfe Kritik üben europäische Zeitungen an der "Aggression" der Türkei. Und an Trump: Er habe "kurdische Verbündete verraten".

Internationale Zeitungen schreiben zu der türkischen Offensive an der nordsyrischen Grenze:

Neue Zürcher Zeitung (Zürich):

"Eine beeindruckende Antwort hat die EU auf Erdogans Aggression bisher nicht gefunden. Die Forderungen der Außenbeauftragten Federica Mogherini "an alle Konfliktparteien" zur Einstellung der Feindseligkeiten klingen hilflos und obendrein grotesk - als wäre die Kurdenmiliz YPG, die Erdogan "auslöschen" will, gleichermassen an der Militäroffensive schuldig; und als habe Europa schon vergessen, welche Gruppe in Syrien bei der Zerschlagung des IS-"Kalifats" den höchsten Anteil hatte. Man müsse Verständnis für die legitimen Sicherheitsinteressen der Türkei aufbringen, ist eine weitere Phrase, die in Brüssel und Berlin selbst in diesen Tagen oft zu hören ist. Doch wie sehr kann es den europäischen Sicherheitsinteressen nützen, einen treuen Verbündeten im Kampf gegen den IS fallen zu lassen und die Destabilisierung einer Nachbarschaftsregion sehenden Auges in Kauf zu nehmen?"

Süddeutsche Zeitung (München):

"Die syrisch-kurdischen Milizen wurden von ihren bisherigen Partnern, den USA, militärisch aufgerüstet. Sie werden sich nicht kampflos zurückziehen. Zwischen die Fronten geraten werden wieder Zivilisten, wieder werden Menschen ihre Häuser verlieren, und womöglich bleibt ihnen erst einmal nur die Flucht. Unter die Flüchtenden könnten sich Kämpfer der Terrormiliz Islamischer Staat mischen, die jetzt noch in Gefängnissen der Kurden in Nordsyrien hinter Schloss und Riegel sind. Im Getümmel könnten sie erneut untertauchen, und nicht nur Wege in die Türkei, sondern auch nach Europa finden. Was Erdoğan "Friedensquelle" nennt - was für ein Name für einen Krieg! - wird sich schon bald als Fluch erweisen, als neues Kapitel der Leiden in acht Jahren Krieg."

Independent (London):

"In einem Akt, der wie ein "unerzwungener Fehler" von geopolitischem Ausmaß wirkt, hat US-Präsident Donald Trump grünes Licht für die türkische Invasion - es gibt kein besseres Wort dafür - Nordsyriens gegeben. Ohne eine größere Vorbereitung oder Konsultationen mit Vertretern des US-Militärs oder des Außenministeriums, ganz zu schweigen von den Verbündeten, hat Trump damit gleichzeitig folgendes getan: Er hat der Türkei erlaubt, sich weite Teile des Territoriums eines benachbarten souveränen Staates einzuverleiben, das Vertrauen der mutigen kurdischen Verbündeten verraten, die jetzt dem feindlichen türkischen Regime ausgeliefert sind, und er hat damit praktisch für die Freilassung von früheren Kämpfern der Terrororganisation Islamischer Staat und von Terroristen gesorgt, die bislang unter kurdischer Überwachung standen."

Gazeta Wyborcza (Warschau):

"Die USA sind zu einem Land geworden, dessen Worten man nicht trauen kann und an dessen Spitze ein größenwahnsinniger Betrüger steht. Das ist nicht nur eine Bedrohung für das Land selbst und seine Verbündeten - darunter auch die Nato. Es gefährdet auch die Sicherheit der ganzen Welt. Denn jeder potenzielle Aggressor, von Ankara über Teheran bis nach Moskau und Peking, versteht nun, dass sich hier eine Chance bietet, die er nicht ungenutzt lassen sollte. Da muss man noch nicht mal Panzer schicken. Es reicht, wenn man Riga oder Taipeh sagt: "Wollt ihr euch auf amerikanische Garantien verlassen? Dann wünschen wir viel Erfolg."

Expressen (Stockholm):

"Türkische Truppen haben die Grenze nach Syrien überquert. Das kann zu einem Alptraum werden, sowohl für die Kurden als auch für Europa - mit Massakern, befreiten IS-Kämpfern und neuen Flüchtlingsströmen. Der hastige und schlecht geplante Rückzug amerikanischer Soldaten, gefolgt von einer türkischen Invasion, kann richtig übel enden. Der Nahe Osten ist eine Pulverkammer, in der die meisten regionalen Großmächte im Syrien-Krieg eigene Interessen verfolgen. Ein Alptraumszenario wären weitere Kriegsverbrechen gegen die Zivilbevölkerung, neue Flüchtlingsströme und ein Wiederaufkommen des IS. All das ist leider nicht unrealistisch. Und für Europa und Schweden ist es höchste Zeit, Schlüsse aus Donald Trumps ruckartiger Syrien-Strategie zu ziehen."

Républicain Lorrain (Metz):

"Wenn Europa nicht zu dem Teufelskreis der ferngesteuerten Attentate aus dem kurzlebigen Kalifat von (IS-Chef Abu Bakr) al-Bagdadi zurückkehren will, wäre es gut beraten, den Druck auf den türkischen "Verbündeten" zu erhöhen. Viel mehr als nur das übliche Konzert von Empörung und diplomatischer Gestik. Das Überleben seines Hauptschutzschildes gegen die Rückkehr dschihadistischer Gefangener steht auf dem Spiel und die Ausbreitung des islamistischen Terrorismus droht. Und das im gleichen Moment, in dem das im Herzen getroffene Frankreich gerade seine letzten vier Opfer begräbt."

Trouw (Amsterdam):

"Die Ankündigung des amerikanischen Rückzugs und der darauffolgende türkische Truppenaufbau haben die übliche nationalistische Euphorie ausgelöst. Wie bei früheren Militäroperationen in Nordsyrien wird das türkische Twitter überschwemmt mit Fotos heldenhafter Soldaten, die türkische Flaggen auf Bergkuppen hissen, mit Videos der neuesten Kampfjets in Aktion und dem Symbol des türkischen Nationalismus: dem grauen Wolf. Wenn es etwas gibt, womit sich die zerstrittene Türkei vereinen lässt, dann ist das ein Krieg. Der mythische Status der Streitkräfte ist in der türkischen Gesellschaft immer noch tief verwurzelt. Ganz wie es der Gründer der türkischen Republik, Mustafa Kemal Atatürk, gesagt haben soll: Die Türkei ist keine Nation mit einer Armee, sondern eine Armee mit einer Nation."

Nürnberger Nachrichten:

"Es ist zum Haareraufen: In Syrien beginnt erneut eine türkische Invasion. Ein Nato-Partner marschiert ein. Und die europäischen Verbündeten sind leider verhindert, sich näher mit dem Vorgang zu befassen. Sie haben selbst genug eigene Probleme. Der türkische Präsident Erdogan ist wild entschlossen, das syrische Kurdengebiet zu fragmentieren und dort arabische Syrer anzusiedeln, die in die Türkei geflüchtet waren. Wenn das passiert, ist Konflikt auf lange Zeit programmiert. Mit Folgen auch für die Europäer, garantiert."

Jörg Winter (ORF) über die türkische Offensive in Syrien

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