Wie das Oktoberfest ein amerikanisches Dorf rettete
Gleich an der Kreuzung zwischen der Edelweiss und der Munich Street ist das Herz der Stadt, die Festhalle. Durch seine Adern fließt maßweise Bier, 16 verschiedene Sorten. Es wird in gläserne Boots gezapft, für 25 Dollar wird er von der Sohle hinauf mit Bier gefüllt. Ein paar Meter weiter auf der Tanzfläche zucken sie gerade aus, der Vogeltanz wird gegeben und sie wackeln mit ihren Armen, als würden sie tatsächlich gleich abheben. Es ist Oktoberfest in Helen, Georgia. Acht Wochen lang, jeden Tag. „Autobahn“ treten auf, die „Uberkrainer“ auch und „Prost“ sowieso.
„Je mehr ihr trinkt, desto besser spielen wir“, ruft der Sänger von „Autobahn“ mit dem umgeschnallten Akkordeon in die Menge. An den Heurigenbänken sitzen zumeist Pensionisten, herbei gekarrt aus Florida und Louisiana, manche tragen Lederhose oder Dirndl, fast alle haben sich um eine Wurst mit Sauerkraut angestellt. „Der nächste Song handelt von der wichtigsten Mahlzeit des Tages: Bier!“, schallt es von der Bühne. Im Vertrag aller auftretenden Bands steht, dass ein Gutteil der Songs deutsch sein muss; „Ein Prosit“ singen Autobahn beispielsweise, oder „Bei mir bist du schön“.
„Zu uns kommen Bayern, denen die Tränen kommen, weil unser Oktoberfest noch so traditionell ist“, sagt Renee Chacon von der Chamber of Commerce in Helen. Nicht nur Bayern, zwischen zwei und drei Millionen Menschen aus aller Welt besuchen Helen pro Jahr. „Nicht schlecht für ein Dorf mit 400 Einwohnern, oder?“, sagt Chacon.
Einst waren die Menschen, die sich hier am Fuss der Blue Ridge Mountains im nördlichen Georgia angesiedelt haben, Holzfäller. Aber niemand braucht heute Holz aus den Wäldern des nördlichen Georgia. Hätten die Helener das nicht schon vor langer Zeit erkannt, es würden hier vermutlich nur noch 40 Menschen leben, so wie in den umliegenden Siedlungen, die nicht einmal mehr Dörfer sind. Die Menschen, die hier in der Umgebung leben und nicht das Glück haben, in Helen zu sein, pendeln hauptsächlich nach Atlanta - eine Fahrt von fast zwei Stunden für eine Wegstrecke.
Aber Helen ist anders, ganz anders. Nicht nur wegen des Oktoberfestes, das heuer zum 46. Mal gefeiert wird. Der ganze Ort ist im Stil eines bayerischen Dorfs erbaut. Die Menschen in Helen haben keine deutschen Vorfahren (ein paar Einwohner waren allerdings im Zweiten Weltkrieg als GIs in Deutschland), Chacon selbst war noch nie in Deutschland, darum geht es nicht. Vielmehr darum: Helen hat sich seinem Schicksal, ein sterbendes Dorf in einer sterbenden Region zu sein, einfach verweigert. Helen beschloss, bayerisch zu sein, mitten in den USA. Und wie so oft sind es die abstrusesten Ideen, die tatsächlich zum Erfolg führen.
Seit 1969 ist es unter anderem verboten, Häuser zu bauen, die keine schrägen Dächer mit roten Dachziegeln haben. Und so schaut Helen tatsächlich aus wie ein Alpendorf. Das ist in weiten Teilen natürlich mehr kitschig als charmant, aber: Es funktioniert. Helen lebt. Die US-amerikanische Flagge weht neben der deutschen und ein Hofbräuhaus gibt es auch. Der Süßigkeitenshop heißt „Hänsel und Gretel“ und im Old Heidelberg gibt es Brezel, Zigeunerschnitzel und eine Schlachtplatte. Einen "Christmas Shoppe" gibt es auch, denn sobald das Oktoberfest vorbei ist, wird der Christkindlmarkt eröffnet. „Und Fasching feiern wir auch“, sagt Chacon.
In der Festhalle beenden unterdessen „Dan Witucki's Heimatland Musikanten“ ihr Set. Bei der letzten Nummer singen alle mit. Sie recken die geballte rechte Hand in die Luft, während die Tubas eine Melodie blasen, die jeder kennt, aber so wohl auch noch nie gehört hat: God bless America.
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