Der Bub, der im KZ Gedichte schrieb
Er arbeite, schrieb der junge Mann, im Rahmen des „Holocaust Memorial Day Trust“-Projekts an der Digitalisierung eines Gedichtbands, an einer Sammlung, die ein Bub im Konzentrationslager verfasst hatte. Und dieser Bub, glaubte der Gedenkdiener, war wohl Harri Stojkas Vater.
Johann „Mongo“ Stojka war 14 Jahre alt, als er mit seinen fünf Geschwistern und seiner Mutter ins Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau und später mit seinem Bruder Karl nach Buchenwald kam – weil sie Roma waren. Denn neben sechs Millionen Juden wurden während des Zweiten Weltkriegs auch 500.000 Roma und Sinti von den Nazis ermordet.
Rückkehr der Erinnerungen
In Buchenwald soll Johann Stojka dann ein Skizzenbuch mit feinfühligen Zeichnungen und pointierten Gedichten gefüllt haben. Der Wiener Jazzmusiker konnte das zunächst nicht glauben. „Wer hat in so einer Stresssituation Zeit, sich hinzusetzen und Gedichte zu schreiben? In Buchenwald!“ Doch auf einmal kamen Erinnerungen. Sein Vater – der während des Todesmarsches von den Amerikanern befreit wurde und nach Wien zurückgekehrt war – hatte, als Harri älter war, immer wieder ein Gedicht aufgesagt. Er habe es im KZ geschrieben, sagte er.
Harri hatte das komplett vergessen. Doch als der Musiker ein weiteres eMail mit Faksimiles des Gedichtbands übermittelt bekam und das erste Bild öffnete, sah er: genau diesen Vierzeiler. Und alle Zweifel waren weg.
Gedichte also Tausch
„Ich bin sprachlos“, sagt Harri Stojka nun im Londoner Museum und kann den Blick nicht von dem kleinen, vergilbten Buch nehmen, das neben der Fotografie ausgestellt ist. „Bitte, das darf man jetzt nicht falsch verstehen, aber für mich hat das denselben Stellenwert wie das Tagebuch der Anne Frank. Diese Gedichte wurden vor Ort in der Hölle geschrieben. Bei jedem Buchstaben, den er verfasste, wurde vor der Baracke jemand vergast, verbrannt, erschlagen. Das muss man sich einmal vorstellen.“
Wie Johann Stojka in Buchenwald in den Besitz von Notizbuch und Bleistift kam, ist ein Mysterium. Doch es gelang ihm, mit seinen Werken Essen für die Familie zu bekommen. Ein Vorarbeiter gab ihm dafür ein Stück Brot. Dieser Vorarbeiter, ein politischer Häftling namens George Hebbelinck, behielt das Buch. Es wurde 1964 in seinem Nachlass gefunden. „Das ist ja auch unglaublich“, sagt Stojka, „dass dieser Vorarbeiter den Wert erkannt und das Werk aufgehoben hat.“
Der Gedichtband ist nun im Imperial War Museums ausgestellt.
Das Museum rechnet in der Holocaust-Ausstellung mit rund einer Million Besucher pro Jahr. „Ich hoffe“, sagt Kurator James Bulgin zu Stojka, „Sie können vielleicht ein wenig Trost in der Tatsache finden, dass so viele Menschen nun über das Werk ihres Vaters erfahren werden.“
Kommentare