Obama hat ein Matroschka-Problem
Am 21. Mai 2009 betritt Barack Obama die Rotunde des National Archives in Washington DC. Die drei bedeutendsten Dokumente der USA befinden sich in diesem Raum: die Originale der Unabhängigkeitserklärung, der Verfassung und der Bill of Rights.
Zu Beginn seiner Rede erinnert er an die historischen Dokumente, dann verkündet der Präsident selbst Großes: Innerhalb eines Jahres soll das Gefangenenlager Guantanamo geschlossen werden. "Wir müssen nun etwas aufräumen, das schlichtweg ein Schlamassel ist", fügt Obama hinzu. Er spricht von einem "fehlgeleiteten Experiment".
Mehr als fünf Jahre sind seitdem vergangen und der US-Präsident kämpft mit dem bekannten Matroschka-Problem: In jeder der russischen Holzpuppen steckt eine kleinere Puppe. Sobald Obama einen neuen Anlauf zur Schließung des Gefangenenlagers unternimmt, stellt sich ihm die nächste Hürde in den Weg.
Die Suche nach Drittstaaten
Seit Jahren sucht Obama Drittstaaten, die Guantanamo-Häftlinge aufnehmen. Denn nach Einschätzung der US-Behörden würden 78 der noch übriggebliebenen 149 Inhaftierten keine Gefahr darstellen und könnten demnach sofort freigelassen werden, erklärt die NGO American Civil Liberties Union. Aber weil vielen Häftlingen in ihrer Heimat Folter und Verfolgung drohen, können sie nicht dorthin abgeschoben werden.
Zudem verhindert der innenpolitische Widerstand eine Schließung des Gefangenenlagers. Der Kongress in Washington blockiert eine Überstellung der Guantanamo-Häftlinge auf US-Staatsgebiet. Daher sucht Obamas Regierung verzweifelt nach Drittstaaten.
Sechs Insassen nach Uruguay
Viele Staaten, wie Österreich und Deutschland, sagten bereits 2009 ab. Uruguay hingegen hatte sich zur Freude Obamas im Mai 2014 zur Aufnahme von sechs Guantanamo-Insassen bereit erklärt. "Die Gefangenen werden sich in meinem Land frei bewegen können“, kündigte Präsident José Mujica an. „Sie sind zerstört worden durch das, was sie durchmachen mussten - physisch und psychologisch."
Im August dieses Jahres landete dementsprechend ein Transportflugzeug am US-amerikanischen Militärstützpunkt in Guantanamo Bay. Vier Syrier, ein Tunesier und ein Pakistani hätten, wie vereinbart, nach zwölf Jahren Gefangenschaft überstellt werden sollen.
Nach vier Tagen hob die Boeing C-17 ab, ohne Gefangene. Mujica hat seine Meinung geändert, berichtet die New York Times, die sich auf anonyme Quellen bezieht. Der Präsident sei besorgt gewesen, dass die Aufnahme von Guantanamo-Häftlingen seiner eigenen Partei bei den kommenden Präsidentschaftswahlen im Oktober schaden könnte, heißt es weiter.
Kurz darauf bestritt Uruguay den Bericht der Zeitung, denn man habe mit der Regierung in Washington nie ein exaktes Datum für die Überstellung ausgemacht, wird ein Sprecher des Präsidenten zitiert.
Für Obama hätte der Deal ein Meilenstein sein sollen. Es wäre der erste Transfer seit der umstrittenen Freilassung von fünf ehemaligen Taliban-Kommandeuren im Austausch für den US-Soldaten Bowe Bergdahl gewesen. Dieser war fünf Jahre lang in Afghanistan als Gefangener von radikalen Islamisten festgehalten worden.
So ist es aber nur eine weitere russische Puppe in der Matroschka-Sammlung des amerikanischen Präsidenten.
Eine alternde Gesellschaft
Heute liegt das Durchschnittsalter der Insassen bei rund 41 Jahren, der Jüngste ist 30, der Älteste 65. Bei 25 Gefangenen wurden laut New York Times Diabetes und Bluthochdruck festgestellt. In den kommenden Jahren werden noch Herzkrankheiten und Krebs dazukommen, wie es in jeder alternden Gesellschaft üblich ist. Insgesamt sind neun Menschen während der Haft gestorben, sieben verübten Selbstmord (siehe Infografik unten).
Aber nicht nur die Gefangenen spüren den Zahn der Zeit. Seit seiner Schließung im April 2002 ist das Camp X-Ray (siehe Bilderstrecke) der Vegetation auf Kuba ausgesetzt. Ratten und andere Nagetiere haben sich bereits eingenistet. Auch Camp Delta, das als Ersatz für Camp X-Ray gebaut wurde und in dem 2003 bis zu 680 Menschen inhaftiert waren, steht heute leer.
Die übriggebliebenen Insassen sind in den neuen Camps 5 und 6 untergebracht, berichtet unterdessen die Menschenrechtsorganisation Human Rrights Watch. Während im Camp 6 die Zellentüren die meiste Zeit offen sind und der direkte Kontakt zu den Wärtern minimal ist, sitzen Häftling im Camp 5 in Einzelhaft. Sie haben die Gefängnisregeln gebrochen und sind somit für eine "Haft in Gesellschaft" ungeeignet.
Ein weiteres Camp versteckt sich hinter den kubanischen Hügeln, rund einen Kilometer von der Küste entfernt (siehe Landkarte). Camp 7 ist ein Hochsicherheitstrakt, aber vieles, was sich in diesem Komplex abspielt, ist strenggeheim. Terroristen wie, Khalid Shaikh Mohammed, selbsternannter Mastermind der Anschläge vom 11. September 2001, sind hier inhaftiert. Er und seine Mithäftlinge werden rund um die Uhr überwacht.
Das Bild Guantanamos
Guantanamo war einst ein Symbol für den Kampf gegen den internationalen Terrorismus. Nun ist das Gefangenenlager ein pervertiertes Bild der amerikanischen Außen- und Verteidigungspolitik der letzten Jahre - Orange, die Farbe der Häftlingskleidung, steht schon lange für Folter und Verletzung der Menschenrechte.
Trotz der negativen Konnotation hofft Obama weiterhin, dass Uruguay zumindest die sechs Häftlinge aufnimmt. Die Regierung in Montevideo gibt sich auch gesprächsbereit: "Man sei bereit Häftlinge ein neues Leben im südamerikanischen Land zu ermöglichen", erklärte der Präsidentensprecher. Auch wenn sich Lucía Topolansky, First Lady Uruguays, über die Vorgehensweise der USA echauffiert: "Es gibt weder Beweise noch wurden die Leute einem Richter vorgeführt. Sie sind keine Gefangenen. Sie wurden gekidnappt und sitzen zu Unrecht in Guantanamo fest.“
Eine weitere Matroschka-Puppe bahnt sich an.
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