Gregor Gysi: "Stimmung kann sehr schnell kippen"

„Nicht in die falsche Richtung gehen, aber die Schritte können kürzer sein“, empfiehlt der Pragmatiker Gysi seiner Partei. Jetzt will er Außenpolitik machen und ist „so verrückt“, seine Biografie zu schreiben
Der Parade-Linke auf Wien-Besuch über Einheit, Griechenland und Flüchtlinge.

Er wurde nach dem Mauerfall Vorsitzender der DDR-Einheitspartei SED, dann der Nachfolgerin PDS. Die führte der scharfzüngige Rechtsanwalt aus Ost-Berlin später mit Oskar Lafontaines SPD-Abspaltung zur "Die Linke" zusammen. Seine Redebeiträge als Fraktionsvorsitzender im Bundestag sind legendär, sein späteres Zerwürfnis mit Lafontaine ist es auch. Diese Woche gab Gregor Gysi (67) den Vorsitz ab – schlagfertig Politik machen will er in der zweiten Reihe weiterhin.

KURIER: 25 Jahre nach der deutschen Einheit ziehen Sie sich in die zweite Reihe zurück: Zufall oder große symbolische Geste?

Zufall. Ich habe das im Mai 2013 angekündigt, nur das hat niemand ernst genommen.

Nach dem Mauerfall 1989 haben Sie gesagt, DDR und BRD sollen zusammenarbeiten, aber in voller Souveränität. Keine Einheits-Vision damals?

Ich konnte mir nicht vorstellen, dass die Sowjetunion die DDR aufgibt. Gorbatschow sagte mir damals, wenn sie die SED aufgeben, geben sie die DDR auf, wenn sie die DDR aufgeben, geben sie die Sowjetunion auf. Ich sagte ihm, ich bin ein kleiner Advokat, mein Verein auf meinen Schultern reicht, nicht noch die ganze Sowjetunion. Da musste er lachen, obwohl er sehr angespannt war.

Wie hat sich Deutschland verändert seit 1989?

Positiv wirkt der Osten nach bei der Gleichstellung der Geschlechter, Kindereinrichtungen und beim Bestreben, dass der Zugang zu Bildung, Kunst, Kultur und öffentlicher Nahverkehr für jeden bezahlbar sein muss. Bei den Jungen ist die Einheit vollzogen. Negativ sind die Zunahme von Rechtsextremismus, dass Teilnahme an Krieg wieder normal geworden ist und die wachsende Macht der großen privaten Banken.

"Uns kriegt man einfach nicht weg" sagten Sie mir vor 20 Jahren und meinten PDS und linke Ideen. Die PDS ist weg, und Deutschland ist nicht links, sondern mehr denn je Merkel-Land.

Ja, ja und nein. Die Armen können das alles nicht mehr bezahlen, an die Reichen trauen sie sich nicht heran – die Mitte muss alles bezahlen und wird immer unzufriedener. In der Wirtschaft dasselbe: Kleine Unternehmen können die Gesellschaft nicht bezahlen, Banken und Konzerne drücken sich – der Mittelstand muss bezahlen. Die Stimmung kann da auch sehr schnell kippen. Folge: Wir haben in Europa eine Bewegung nach rechtsextrem. Und die Linken links der Sozialdemokratie, die durch die Art des Staatssozialismus tief im Keller waren, beginnen sich zu erholen. Weil sich die Leute fragen, ob es so weitergehen kann.

Die Aufbruchstimmung der Linken nach dem Syriza-Sieg in Griechenland ist aber wieder dahin. Und Tsipras hat sich den EU-Vorgaben beugen müssen.

Wenn eine von 19 Regierungen nicht den neoliberalen Kurs fährt und das finanziell schwächste Land vertritt, dann sind die Chancen, gegen die 18 zu gewinnen, äußerst begrenzt. Aber dafür haben sie eine Menge erreicht – und die Wahlen wieder gewonnen.

Aber hat der Druck Griechenland nicht geholfen?Die Austeritätspolitik ist falsch, weil dadurch die Wirtschaftsleistung zurückgeht. Höhere Mehrwertsteuer auf den Inseln etwa, dann geht der Tourismus zurück – ja wovon lebt denn Griechenland? Nein, es braucht so etwas wie einen Marshall-Plan für Südosteuropa.

Stichwort Hilfe: Kann Europa die Flüchtlingswelle schultern?

Sehr schwer. Und die Kompromisse mit der Türkei sind abenteuerlich. Flüchtlinge, die vor Krieg fliehen, kann man nicht mit Zäunen stoppen. Also müssen wir überlegen, wie wir sie hier behandeln; und dafür sorgen, dass sie nicht mehr fliehen müssen. Ich glaube, dass Obama und Putin Dinge zu Syrien verabredet haben, die wir gar nicht kennen.

Also Hoffnung?

Ja, der Druck lässt uns plötzlich finanzielle Mittel aufstocken, es geschieht etwas. Weil für die ganze Menschheit haben wir keinen Platz. Aber es steht eine Grundfrage des Kapitalismus an: Vor fünf Jahren besaßen die 388 reichsten Menschen der Erde so viel, wie die untere Hälfte der Menschheit, heute 80. Und wir haben die Bedeutung der digitalen Revolution völlig unterschätzt: Wir haben in Europa lange so gelebt, wie wir gelebt haben, weil die Menschen in Afrika nicht wussten, wie wir gelebt haben. Jetzt wissen sie es. Im Grunde ist das spannend.

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