"NATO oder EU können nicht weiter so agieren"
Georgien strebt in die NATO, will sich der EU annähern, hat in den vergangenen zehn Jahren massive Reformen um- und seine Bürger damit großen Belastungen ausgesetzt – greifbare Ergebnisse lassen aber auf sich warten. Und gerade der gegenwärtige Konflikt mit Russland bringt neue Dynamiken in den Prozess der Annäherung. Tinatin Khidasheli ist Verteidigungsministerin des Landes. Der KURIER traf sie zum Interview.
KURIER: Angesichts der gegenwärtigen Lage im Kaukasus und in der Ukraine – wo orten Sie denn die größten Gefahren für Georgien?
Tinatin Khidasheli: Das vergangene Jahr war sehr kompliziert. Die Länder suchen nach Optionen. Alle Länder in der Region versuchen, aus der Krise zu kommen und suchen ihre eigenen Wege, um zu überleben. Die Entwicklungen in der Ukraine geben nicht viel Raum für Optimismus. Jeder muss seine Wahl treffen. Nicht nur die Länder in der Region – auch unsere Partner und Freunde. Ich bin der Ansicht, dass die Herausforderungen, die Russland gerade stellt, nicht gegen Tiflis oder Kiew oder Baku oder Erewan gerichtet sind. Es geht um Washington, Brüssel und alle anderen Hauptstädte des Westens. Der Ball liegt jetzt gerade auf der anderen Seite des Spielfeldes.
Der Riga-Gipfel der EU-Nachbarschaft, das Treffen der assoziierten Mitglieder – welchen Eindruck hat der bei Ihnen hinterlassen. Die erhofften Visaerleichterungen gab es ja nicht?
Ich würde sagen, es war ein sehr positiver Gipfel. Ja, die Visaliberalisierungen gab es nicht für Georgien. Aber es gibt eine prinzipielle Entscheidung darüber, und es ist nur eine Frage der Zeit – und kurzer Zeit. Ich denke positiv: Wir haben eine Deadline, wir haben einen Zeitrahmen, und jetzt ist es nur mehr eine Frage der technischen Umsetzung.
Macht die EU derzeit genug für ihre assoziierten Mitglieder – Georgien ist ein assoziiertes Mitglied, die Ukraine auch?
Naja. Man kann immer sagen, es ist Platz für mehr (lacht, Anm.). Aber alles in allem: Die EU ist sehr verlässlich dabei, ihre Versprechen zu erfüllen. Wir können das Timing diskutieren, wir könnten sagen, gewisse Dinge hätten zwei Jahre früher gemacht werden können, aber wir leben in einer realistischen Welt – man kann sagen, die EU macht einen sehr guten Job in den Beziehungen zu uns.
Gilt das auch für die NATO?
Da gibt es einen Unterschied, das kann man nicht leugnen. Wir sind in den Beziehungen zur NATO in einer umgekehrten Lage als in den Beziehungen zur EU: Die technische Arbeit ist von unserer Seite erledigt, was fehlt, ist die politische Entscheidung zur Aufnahme in den Membership Action Plan (MAP) und in der Folge zu einer Mitgliedschaft – die uns (beim NATO-Gipfel 2008, Anm.) in Bukarest versprochen wurde.
Wird das passieren in den nächsten zehn Jahren?
Realistisch gesehen kann das in zehn Jahren passieren – in einem Jahr, jederzeit. Wir müssen bereit sein, um unsere Chance zu ergreifen. Wir warten auf unsere Chance.
Da besteht aber die Frage der abtrünnigen Territorien Südossetien und Abchasien, die die NATO abschreckt – schließlich stehen da russische Truppen und sie werden von Russland anerkannt.
Für die Mitgliedschaft, ja. Für die Aufnahme in den Membership Action Plan sehe ich das nicht. Es gibt keine kollektive Sicherheit. Aber wenn Russland mit dem, was es in der Ukraine derzeit tut, durchkommt, wird es in der Ukraine nicht stoppen. NATO oder EU können nicht weiter so agieren, wie sie es heute tun – nur im Reaktionsmodus. Es gibt viele Optionen, und viele Entscheidungen müssen getroffen werden, hier in den Hauptstädten. Leider sind unsere Optionen in Tiflis limitiert. Wir haben unsere Wahl getroffen. Der NATO-Warschau-Gipfel (2016, Anm.) muss uns eine klare Antwort geben. Es ist der Moment gekommen, an dem wir nicht noch einmal vertröstet werden können.
Der Krieg in der Ukraine hat auf der anderen Seite ganz offensichtliche Schwächen der NATO sichtbar gemacht. Ist denn die NATO tatsächlich ein Sicherheitsfaktor oder vielleicht doch mehr ein Risiko?
Es kommt darauf an, woher man das betrachtet. Aus Moskauer Sicht sieht die NATO definitiv schwach aus. Aus der Sicht Tiflis tut sie das nicht. Sie ist heute weitaus resoluter, stärker, als sie es 2008 war, als wir im Krieg mit Russland waren. Aber wenn Moskau nicht überzeugt ist, dass die NATO-Prinzipien bestehen, was wird sie stoppen? Uns MAP zu geben würde die NATO stärken. Die NATO braucht uns derzeit mehr als politisches Signal an Russland, als wir die NATO.
Was würde es bedeuten, wenn MAP nicht passiert?
Es wäre nicht das Ende Georgiens, aber es wäre eine Tragödie.
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