Gaza nach dem Krieg: "Wie überlebt man bis zum Nachmittag?"

Gazastreifen: Kinder schleppen einen Wasserkanister. Alle Wasserleitungen in der Region sind zerstört
An die 130 Liter Wasser verbraucht ein Mensch in Österreich im Schnitt jeden Tag: für duschen, Toilette, Hände waschen, kochen, trinken. Im Gazastreifen sei es für viele zuletzt nur ein halber Liter gewesen – pro Mensch, pro Tag, schildert Christopher Friedrich. Und der 36-jährige Vorarlberger, der für das Internationale Rote Kreuz (IKRK) in den vergangenen zwei Jahren mehrmals in Gaza im Hilfseinsatz war, weiß auch: Die verzweifelte Lage für die 1,7 Millionen palästinensischen Zivilisten wird sich so bald nicht bessern – denn „alle Wasser- und alle Abwasserleitungen sind nach den zwei Jahren Krieg zerstört“. Gleiches gilt für alle Entsalzungsanlagen. Was bleibt, ist verseuchtes Grundwasser.
Doch Israel hält wegen der zögerlichen Rückgabe der Leichen israelischer Geiseln durch die Terrorgruppe Hamas die Grenzübergänge nach wie vor weitgehend geschlossen. „Alle hoffen nur, dass die Waffenruhe hält“, schildert Christopher Friedrich, „und dann müssen die Grenzen aufgehen, und Hilfe muss sofort hereinkommen. Denn es ist nichts mehr da. Es geht nur noch darum: Wie überlebt man bis morgen, nein, wie überlebt man bis zum Nachmittag.“
Zwei Jahre Krieg – Israels Antwort auf den Terror der Hamas vom 7. Oktober 2023, der 1.200 Israelis das Leben kostete und mehr als 250 zu Geiseln machte – haben den kleinen Landstreifen von der Größe Wiens weitestgehend zerstört hinterlassen. Mehr als vier Fünftel aller Gebäude sind beschädigt oder nur noch Betonhaufen. Knapp 68.000 Menschen wurden getötet, fast 169.000 verletzt.
55 Millionen Tonnen Schutt
Um die 55 Millionen Tonnen Schutt zu beseitigen und Gaza wieder aufzubauen, wird es Jahre dauern und laut jüngsten Schätzungen mindestens 70 Milliarden Euro brauchen. Zunächst aber gehe es darum, meint der krisenerprobte österreichische Experte für Sanitärversorgung, die nächsten Tage, den kommenden Winter zu überstehen. „Einige unserer Mitarbeiter vom Internationalen Roten Kreuz oder vom Palästinensischen Roten Halbmond mussten zehn Mal fliehen. Sie besitzen nichts mehr, sie müssen im Dreck schlafen.“

Mehr als 80 Prozent der Gebäude im Gazastreifen sind zerstört
So wie für Zigtausende palästinensische Familien, die alles verloren haben, gibt es nicht einmal Zelte. Die Einfuhr von sogenannten Dual-Use-Gütern, also Material, das auch anders als für den ursprünglichen Zweck verwendet werden kann, hatte die israelische Armee verboten. Dazu zählen auch Zeltstangen, oder größere Rohre, die für Latrinen erforderlich sind.
Die Folge: „Von Unterkunft kann man für Tausende Menschen nicht sprechen, im besten Fall sind das Unterstände.“ Und in Gaza, warnt der studierte Umweltwissenschaftler Friedrich, „können die Winter sehr kalt sein“. Alles, alles, was es brauche, um warm zu werden, von Decken bis Gas für die Gaskocher. sei jetzt dringend nötig.
Löcher graben für Exkremente
Auch für die Errichtung von Latrinen galt: „Wir wollten viel mehr davon bauen, aber es gab kein Material, keine Rohre.“ Im Idealfall schildert Christopher Friedrich, „benutzen maximal 20 Personen eine Latrine.“ In Gaza sind es viele, viele mehr. An Händewaschen ist nicht zu denken, Krankheiten breiten sich aus. „Eine absolute Katastrophe“. Die Latrinen füllen sich, niemand kann sie entsorgen. Der Gestank: „Fürchterlich“. Frauen berichteten, dass sie pro Tag nur noch wenige Schlucke Wasser tranken – um die Latrinen vermeiden. Oft ist es erträglicher, für die Exkremente ein Loch in den Boden zu graben.

Christopher Friedrich (36) war während des zweijährigen Krieges in Gaza mehrmals für das Internationale Rote Kreuz im Hilfseinsatz
Seit die Waffen schweigen, haben sich Hunderttausende Menschen auf den Weg zurück in ihre Wohnungen oder Häuser gemacht. Doch dort türmen in den meisten Fällen nur noch Schutthaufen. Und lauert die nächste Gefahr – nicht explodierte Geschosse. „Man muss damit rechnen, dass in Gaza Zehntausende Blindgänger herumliegen. Und es gibt keine Infrastruktur, kein Personal, das sie entsorgen kann“, weiß Christopher Friedrich. Die Blindgänger machen auch die Reparatur der Wasserleitungen schwierig: „Da kann ich nicht mit dem Bagger – den es ja ohnehin nicht gibt – einfach in die Erde fahren. Drei mal geht es gut, und beim vierten Mal fliegt alles in die Luft.“
Vor dem Krieg lieferten täglich an die 600 Lastwägen Güter in den Gazastreifen. Während der zweijährigen Kämpfe reduzierte Israel den Zugang massiv, im heurigen Frühling blockierte Israel drei Monate lang jegliche Hilfe. Kein einziger Lkw rollte nach Gaza – so sollte der Druck auf die Terrororganisation Hamas gesteuert werden. Den bitteren Preis aber zahlte die Zivilbevölkerung, die letzten Reserven gingen verloren.
Nach Angaben der Gesundheitsorganisation der Hamas sind bisher an die 400 Menschen in Gaza verhungert. Laut Welthungerhilfe sind 641.000 Menschen akut vom Hungertod betroffen.
Jetzt, so rechnen Hilfsorganisation, ist die Not in Gaza mittlerweile so groß, dass 600 Lkw nicht mehr reichen. Es müssten täglich 1.000 Lkw sein – wenn alle Grenzen offen wären. Und die Waffenruhe hält.
Das Rote Kreuz bittet dringend um Spenden:
Österreichisches Rotes Kreuz
IBAN: AT57 2011 1400 1440 0144
BIC: GIBAATWWXXX
Erste Bank: BLZ 20.111
Kennwort: Naher Osten
Oder unter: https://wir.roteskreuz.at/nothilfe-gaza
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