"Der Gazastreifen ist zu einem Massengrab geworden"

Verzweifelter Kampf um ein wenig Essen im Gazastreifen
Kein Essen, Medikamente, Strom - Gaza steht vor dem Kollaps. Österreichische Hilfsorganisationen appellieren an die Politik, den Druck auf Israel zu erhöhen: "Die Blockade muss enden. Sofort."

"In den kommenden Tagen", kündigte Premier Benjamin Netanjahu an, werde Israel im Gazastreifen eine neue, groß angelegte Offensive starten. Ziel: Die palästinensische Terrororganisation Hamas soll endgültig zerschlagen und die verbliebenen israelischen Geiseln aus ihrer Gewalt befreit werden. Für die rund zwei Millionen Menschen im Gazastreifen aber bedeutet das weiterhin: Kein einziger LKW mit Lebensmittel wird über die Grenzen nach Gaza rollen, die letzten Medikamente gehen zur Neige, Strom wird weiterhin abgeschaltet bleiben - und damit auch die Pumpen zur Trinkwasseraufbereitung.

Seit mehr als zwei Monaten, seit der Wiederaufnahme der Kämpfe in Gaza, blockiert Israel alle Lieferungen in den Gazastreifen. "Wir müssen endlich offen und klar reden, was in Gaza passiert", fordert Laura Leyser. Es sei "die Hölle", schildert der einzige österreichische Mitarbeiter von Ärzte ohne Grenzen vor Ort, und die Geschäftsführerin der Hilfsorganisation führt weiter aus: "Der Gazastreifen ist zu einem Massengrab geworden."

Von bisher 52.000 palästinensischen Toten - 20.000 davon dürften Hamas-Kämpfer gewesen sein - waren etwa 17.000 Kinder. Tausende Menschen werden unter den eingestürzten Gebäuden vermisst. Auch unter den mehr als 100.000 Verletzten zählt man rund ein Drittel Kinder. "Die meisten von ihnen haben unglaubliche Qualen erlitten", schildert Leyser, "sehr viele von diesen Kindern haben schwere Verbrennungen. Um ihr Leben zu retten, müssen wir die abgestorbene Haut abtragen - wir haben aber keine Schmerzmittel mehr."

Hält die Blockadesituation - ohne Treibstoff, ohne Strom - weiter an, müssten binnen wenige Wochen auch die letzten Intensivstationen zugesperrt werden, wo die Brutkästen für die Neugeborenen stünden. Dann gäbe es gar keine Medikament mehr, "und wir müssen Triagen vornehmen. Wir können bald nicht mehr helfen", sagt Leyser und fordert: "Da muss sich etwas ändern. Und zwar sofort."

MIDEAST ISRAEL PALESTINIANS GAZA CONFLICT

Zusammen mit dem Roten Kreuz und Caritas wandte sich Ärzte ohne Grenzen am Mittwoch in einem dramatischen Appel an die heimische und die europäische Politik, sich für ein sofortiges Ende der Blockade von Hilfsgütern einzusetzen. Sie fordern auch einen dauerhaften Waffenstillstand zwischen den Kriegsparteien, vor allem aber die Einhaltung des humanitären Völkerrechts. Mit diesem Appell aber wolle man auf keinen Fall den Terrorangriff und die Verbrechen der Hamas gegen Israel vom 7. Oktober "relativieren". Damals waren 1.200 Israelis getötet und mehr als 250 Geiseln nach Gaza verschleppt worden.

Für die jüngste Kritik von Heinz Fischer, der als erster österreichischer Politiker in der Vorwoche das Vorgehen Israels in Gaza angesprochen hatte, wurde der Altbundespräsident seinerseits hart kritisiert: Er betreibe "gefährliche Täter-Opfer-Umkehr", wurde ihm von Ex-Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka vorgeworfen. Doch allmählich wird die internationale Kritik lauter: „Was die Regierung von Benjamin Netanjahu aktuell macht, ist inakzeptabel“, empörte sich auch Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und spricht von "Schande."

60.000 Kinder im Gazastreifen seien bereits unterernährt, schildert auch Alexander Bodmann, Vizepräsident der Caritas Österreich: "Die Lebensmittelknappheit hat die Preise so in die Höhe getrieben, dass ein Kilo Mehl in Gaza jetzt schon zwischen 12 und 15 Dollar kostet."

Die Grafik zeigt die Zerstörung im Gazastreifen, wo 70 Prozent der Häuser zerstört sind

Mehr als 70 Prozent aller Gebäude seien schwer beschädigt oder unbewohnbar, 82 Prozent der Ernteflächen zerstört und 90 Prozent der Menschen mindestens einmal vertrieben worden.

Aftermath of an Israeli strike on a house, in Jabalia

Bodmann: "Im ganzen Gazastreifen gibt es keinen einzigen sicheren Ort." Dass die Lage bei weitem nicht so schlimm sei, zumal es noch immer Lebensmittel gebe, wie Israels Regierung behauptet, weist der Caritas Vize-Präsident zurück: "Hilfsorganisationen und die UNO sind vor Ort und sehen die Lage."

Diese "menschengemachte Hungerproblematik" wäre vielmehr ganz einfach zu lösen: Nur ein paar Kilometer entfernt, in Ägypten, seien die Lager voll. "Die Blockierung von humanitärer Hilfe ist schlicht und ergreifend völkerrechtswidrig", sagt der Vize-Präsident der Caritas Österreich. 

Und Michael Opriesnig, Generalsekretär des Österreichischen Roten Kreuzes stößt nach: "Alle Grenzübergänge nach Gaza müssen geöffnet werden. Hilfe muss zugelassen werden, Zivilbevölkerung und humanitäre Helferinnen und Helfern sind zu schützen, und alle Geiseln sind bedingungslos freizulassen." Vor allem aber appellierte Opriesnig an die Politiker. "Das humanitäre Völkerrecht wird mit Füßen getreten. Die Staaten haben es unterschrieben - und sie sind dafür verantwortlich, es einzuhalten."

Israeli army tanks along the Gaza border

Israels Armee bereitet sich auf die nächste Offensive in Gaza vor

In Katar haben am Mittwoch Verhandlungen über eine neue Waffenruhe im Gaza-Krieg begonnen. Doch ein baldiges Ende der Blockade lassen auch sie nicht erwarten, denn die Gespräche sollen „unter Feuer“ geführt werden, wie Israels Regierung betont.