"Apokalyptisch": Ab Februar könnten Menschen in Gaza verhungern

Kinder warten mit Töpfen auf die Ausgabe von Essen
Nach drei Monaten Krieg und viel zu wenig Versorgung ist jeder der 2,2 Millionen Palästinenser im Gazastreifen hungrig. Bessert sich die Lage nicht, drohen ab Februar Menschen zu verhungern.

Noch nie seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges sind so viele Menschen – 2,2 Millionen Palästinenser – innerhalb so kurzer Zeit in solch eine Hungersituation geraten. „Mehr als 570.000 Menschen sind in Gaza unmittelbar vom Hungertod bedroht“, warnt Martin Frick, Direktor beim UN-Welternährungsprogramm (WFP). Das seien, sagt Frick im KURIER-Interview, „vier Mal so viele wie alle Menschen in der gleichen verzweifelten Lage weltweit zusammengenommen“.

KURIER: Die UNO schlägt Alarm, dass in den nächsten Wochen die ersten Menschen in Gaza zu verhungern drohen..

Martin Frick: Das ist eine reale Gefahr. In den fast 100 Tagen dieses Krieges wurden so wenige Lebensmittel nach Gaza gebracht wie normalerweise in zehn Tagen. Jetzt wurde ein zweiter Grenzübergang geöffnet. Aber es bleibt ein sehr mühsamer und schwieriger Prozess; jeder einzelne Konvoi muss genehmigt werden. 

Hintergrund: Palästinenser, aber Feinde der Hamas - wer ist die Fatah?

Von 20 Konvois, die in den Norden Gazas gehen sollten, wurden 15 abgelehnt. Am Anfang des Krieges gab es in Gaza noch Geschäfte und Lagerbestände, aber jetzt sind zwei Drittel aller Geschäfte zu und die Lager leer, zerstört oder unzugänglich.

Schon vor einem Monat haben Sie gewarnt: die Lage in Gaza sei „apokalyptisch“. Wird es nicht von Tag zu Tag noch schwieriger?

70 Prozent, also zwei Drittel aller Gebäude sind zerstört. Von geschätzten 2,2 Millionen Menschen sind 1,9 Millionen auf der Flucht, zum Teil schon mehrmals hintereinander. Wenn man davon ausgeht, dass zwei Drittel der Krankenhäuser nicht mehr funktionsfähig sind; dass es keine Energie mehr zum Heizen und kein sauberes Trinkwasser mehr gibt; dass die sanitären Bedingungen unmenschlich sind – dann ist es gerechtfertigt von einer apokalyptischen Situation in Gaza zu sprechen.

Gibt es noch Bäckereien oder Orte, wo Lebensmittel hergestellt werden?

Wir als Welternährungsprogramm hatten in Gaza 23 Partnerbäckereien, sie mussten alle schließen. Sie wurden von Bomben getroffen oder hatten keinen Brennstoff mehr. Drei Mühlen sind auch außer Betrieb, sodass auch Getreide, wenn es denn noch irgendwo lagern würde, gar nicht mehr gebraucht werden könnte.

"Apokalyptisch": Ab Februar könnten Menschen in Gaza verhungern

Flüchtlingsfamilie in Gaza

Ein paar Bäckereien haben in der Zwischenzeit wieder Flaschengas erhalten und können kurzfristig arbeiten. Aber man muss auch wissen: 

Brot ist jetzt im Gazastreifen das Haupt Nahrungsmittel, weil es Menschen mit Essen zu versorgen gilt, das man nicht kochen muss. Denn es gibt keine Energie mehr um zu kochen. Die Menschen leben also hauptsächlich von Brot und Dosennahrung.

Stimmt es, dass jeder Menschen in Gaza bestenfalls nur noch einmal pro Tag essen kann?

Die gesamte Bevölkerung von Gaza hungert. Eine Million Menschen drohen in die allerschlimmste Stufe abzurutschen – in der sich über eine halbe Million Menschen bereits befindet. Und wir dürfen die israelischen Geiseln nicht vergessen – auch sie leben unter fürchterlichen Bedingungen.

Besonders teuflisch ist Hunger für Kinder. Mangelernährung von Kindern – in den ersten 1.000 Tagen seit Empfängnis – kann zu lebenslanger Behinderung führen.

Es gibt Gerüchte, das Israels Armee die Tunnel unter dem Gazastreifen fluten könnte. Würde die Wasserversorgung wegen Verseuchung des Grundwassers dann endgültig zusammenbrechen?

Nur sieben Prozent des benötigten Wassers steht zur Verfügung. Die noch vorhandenen Meerwasserentsalzungs-Anlagen produzieren zu wenig und mit Lastwagen kommt nicht genug nach Gaza rein. Deswegen trinken viele Menschen bereits aus verseuchten und verkeimten Quellen. Damit steigt die Gefahr bei einer ohnehin geschwächten Bevölkerung, dass Epidemien ausbrechen.

Was muss passieren, damit die Menschen versorgt werden können, bevor es potenziell tödlich wird?

Wir fordern eine humanitäre Waffenpause – sofort, und je länger, desto besser. 1,9 Millionen Menschen befinden sich derzeit ausschließlich im Südosten Gazas konzentriert auf kleinstem Raum. Da könnten wir bei einem Waffenstillstand sofort hin und die Menschen versorgen.

"Apokalyptisch": Ab Februar könnten Menschen in Gaza verhungern

Martin Frick, Direktor beim Welternährungsprogramm WFP der UNO

Im Dezember gab es eine siebentägige Feuerpause, wo wir sofort alle Möglichkeiten genutzt haben, aber das war natürlich nur einen Tropfen auf den heißen Stein. Nötig wären auch mehr offene Grenzübergänge.

Was aber, wenn der Krieg noch Monate dauert?

Der internationale Druck auf Israel steigt, selbst von ihrem engen Verbündeten USA, dass diese Militäraktion Rücksicht auf Zivilisten nehmen muss.

Aber die israelische Armee hat auch festgestellt, dass die Hamas im Norden des Gazastreifens im Wesentlichen bekämpft wurde. Das lässt uns hoffen, dass wir die Bevölkerung dort bald wieder versorgen können. Und es braucht nicht nur Essen und Medikamente, sondern auch Heizmaterial, Planen und Unterkunftsmöglichkeiten, es ist jetzt empfindlich kalt und regnerisch geworden.

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