93 Tote bei Lebensmittelausgabe in Gaza: "Lasst uns verhungern, das ist besser"

Palestinians gather to receive food from a charity kitchen, amid a hunger crisis, in Nuseirat
Seit Ende Mai wurden mehr als 800 Palästinenser bei dem Versuch getötet, Lebensmittel zu beschaffen. Das israelische Militär hat eine neue Offensive im Gazastreifen gestartet.

Zusammenfassung

  • Mehr als 800 Palästinenser wurden seit Mai bei der Lebensmittelbeschaffung im Gazastreifen getötet, darunter mindestens 93 allein am Sonntag.
  • Israel hat eine neue Militäroffensive im Gazastreifen gestartet, mit Bodentruppen und Luftangriffen auf Deir al-Balah, was zu weiterer Vertreibung führte.
  • Internationale Kritik wächst, darunter vom UN-Nothilfebüro und Papst Leo XIV., die das Vorgehen Israels verurteilen.

Die kleine Razan wog keine sechs Kilogramm. Am Sonntag starb das vierjährige Mädchen in einem Krankenhaus im Zentrum des Gazastreifens  – an den Folgen schwerer Unterernährung. 

Allein am Sonntag sind nach Angaben des von der Hamas kontrollierten Gesundheitsministeriums 19 Menschen in dem hermetisch abgeriegelten Küstenstreifen verhungert, darunter mehrere Kinder.

Die Menschen in Gaza stehen vor einer tödlichen Wahl: sich und ihre Familien verhungern zu lassen. Oder sich auf den Weg zu der minimalen Hilfe zu machen, die Israel gewährt - und riskieren, dabei erschossen zu werden.

Mehr als 800 Menschen getötet

Nach Angaben der Vereinten Nationen wurden zwischen Ende Mai und dem 13. Juli mehr als 800 Menschen im Gazastreifen getötet, während sie versuchten, an Nahrungsmittel zu gelangen. Mehr als 600 von ihnen starben bei Verteilungszentren der umstrittenen Gaza Humanitarian Foundation (GHF). 

Im Rotkreuz-Feldspital, dem letzten funktionsfähigen Krankenhaus in der Region Gaza, sind seit Ende Mai 3.400 durch Waffen verletzte Personen behandelt worden. Unter den unzähligen Verletzten im Rotkreuz-Feldspital sind laut der Hilfsorganisation vor allem Kleinkinder, Jugendliche, ältere Menschen und Mütter. Die meisten von ihnen sollen versucht haben, ein Verteilzentrum für Hilfsgüter zu erreichen. 

"Ich werde nie wieder zurückkehren"

Der vergangene Sonntag war der bisher tödlichste Tag für Hilfssuchende seit Beginn des Gazakrieges im Oktober 2023. Mindestens 93 Palästinenser wurden getötet, 79 von ihnen im Norden des Gazastreifens. Das UN-Welternährungsprogramm (WFP) berichtet, eine Menschenmenge habe sich einem Hilfskonvoi aus 25 Lkw genähert, als dieser den Grenzübergang Zikim passierte – dann sei sie unter israelischen Beschuss geraten.

"Plötzlich umzingelten uns Panzer und schlossen uns ein, während Schüsse und Angriffe niederprasselten. Wir saßen etwa zwei Stunden fest“, schildert Ehab Al-Zei gegenüber AP. Er hatte auf Mehl gewartet, das im Gazastreifen inzwischen 80 US-Dollar kostet. "Ich gehe nie wieder zurück. Lasst uns verhungern, das ist besser."

Die israelische Armee weist diese Darstellung zurück. Man habe lediglich Warnschüsse abgegeben.

Neue israelische Offensive gestartet

Montagfrüh hat Israel indes eine neue Militäroffensive im Zentrum des Gazastreifens gestartet. Boden- und Luftangriffe trafen die Stadt Deir al-Balah. Augenzeugen berichten von Panzern und Militärfahrzeugen, die unter schwerem Artilleriefeuer erstmals in südliche und östliche Teile der Stadt eindrangen. Mindestens drei Menschen wurden dabei getötet.

Deir al-Balah galt bisher als einer der wenigen Orte im Gazastreifen, die von israelischen Bodentruppen verschont geblieben waren. Bereits zuvor hatte Israel jedoch Luftangriffe auf die Stadt geflogen. Es wird vermutet, dass dort noch immer israelische Geiseln festgehalten werden. 

Kurz vor Beginn der Offensive waren die Menschen in mehreren Stadtteilen aufgefordert worden, sich in das weiter südlich gelegene Al-Mawasi zu begeben. Laut dem UN-Nothilfebüro OCHA hielten sich zu diesem Zeitpunkt zwischen 50.000 und 80.000 Menschen in dem Gebiet auf – viele von ihnen bereits mehrfach Vertriebene aus anderen Teilen des Gazastreifens.  Zudem befinden sich mehrere Lagerhäuser für humanitäre Hilfe, vier Kliniken, ein Wasserreservoir sowie eine Pumpstation für Abwässer in dem Gebiet. 

Scharfe Kritik

Das UN-Nothilfebüro sprach von einem "verheerenden Schlag" für die humanitären Bemühungen durch einen neuen "Massenvertreibungsbefehl". Auch aus Israel selbst wächst der Protest. Familien der verbliebenen 50 israelischen Geiseln, die seit dem Hamas-Massaker vom 7. Oktober 2023 noch immer im Gazastreifen festgehalten werden, kritisieren die Einsatzpläne. "Kann uns irgendjemand versprechen, dass diese Entscheidung nicht zum Verlust unserer Angehörigen führen wird?", heißt es in einer Stellungnahme. Mindestens 20 Geiseln sollen noch am Leben sein.

Erstmals äußerte sich auch Papst Leo XIV. öffentlich mit scharfer Kritik. Beim Mittagsgebet in Castel Gandolfo verurteilte er am Sonntag die Kriegsführung Israels und forderte ein sofortiges Ende "der Barbarei des Krieges".

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