Für immer gezeichnet: Die Jesiden in den Shingal-Bergen

Jesidische Kämpferinnen der PKK-nahen YBS in der zerstörten Stadt Shingal.
Tausende sitzen noch heute in jenem Gebirge, in das sie vor dem IS geflohen waren – und denken nicht daran, es jemals wieder zu verlassen. In Lagern im Norden herrscht indes Aufbruchstimmung nach Europa.

Aus dem Flachland im Norden des Shingal-Gebirges führt eine kurvige Straße in die Berge. Salim verstummt. Dann sagt er: "Diese Berge haben mein Leben gerettet." Oben, zwischen den kargen Hängen des Massivs: Zelte, Hütten, Container. Eine Siedlung, wo zuvor nur Schafe weideten. Ein fahrender Händler pendelt mit seinem kleinen Lkw zwischen den Grüppchen von Behausungen, hupt bei der Ankunft. Menschen kommen aus den Zelten. Gemüse hat er geladen, Reis, Alltägliches.

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Was er damit verdient, so sagt er, reichte gerade, um ihn und seine Familie zu ernähren – oder besser das, was nach dem Massenmord des "Islamischen Staates" an den Jesiden, der sich im Flachland um das Bergmassiv abgespielt hat, von seiner Familie noch übrig ist. Jeder hier hat Freunde, Verwandte, Nachbarn, Söhne, Töchter verloren. Viele wurden ermordet, viele gefangen genommen.

Für immer gezeichnet: Die Jesiden in den Shingal-Bergen
Sinjargebirge, Irak, Jesiden
Sheree steht am Heck des Kleinlasters und kauft Feuerzeuge. Sie ist eine alte Frau mit tiefen Furchen im Gesicht. Sie raucht ohne Unterbrechung und ihre Hände beben, wenn sie sich eine neue Zigarette anzündet. Sechs Monate war sie in der Gefangenschaft des IS. Wo genau, weiß sie nicht mehr. Ihr Blick bleibt ruhig, wenn sie vom Horror der Gefangenschaft erzählt, der die schlimmste Vorstellungen übersteigt. Wie sie geprügelt wurde mit abgetrennten Gliedmaßen; wie man ihnen Essen vorgesetzt hatte, in dem sie abgetrennte Finger fand; wie Frauen neben ihnen vergewaltigt und Männer getötet wurden – auf jede nur erdenkliche Weise. Aus anderen Ländern seien viele von diesen Kämpfern gewesen. Woher, kann sie nicht sagen.

Fast zu Tode geprügelt

Ihren geistig behinderten Sohn haben sie fast zu Tode geprügelt, weil er einen Kämpfer um eine Zigarette gebeten hatte. Seither spricht er nicht mehr. Sitzt stumm vor dem Zelt im Gras. Als man sie in die Wüste vor ein ausgehobenes Loch brachte, gab es einen Luftangriff. In dem Chaos gelang beiden die Flucht. Ein tagelanger Marsch durch die Wüste – in irgendeine Richtung auf schweigenden Hinweis einiger Dorfbewohner. Nur weil sie alt ist und ihr Sohn behindert, hatte man sie überhaupt so lange am Leben gelassen. Wo ihr zweiter Sohn ist, weiß Sheree nicht. "Wir werden das niemals vergessen, niemals", sagt sie. Hinunter in die Ebene im Norden oder gar in den Süden, wo noch gekämpft wird, traut sie sich nicht. Da will sie, wie sie sagt, nie mehr hin – auch, wenn der Krieg einmal vorbei sein wird. Und daher bleibt sie in jenen Bergen, die auch ihr das Leben gerettet haben.

Für immer gezeichnet: Die Jesiden in den Shingal-Bergen
So wie Tausende andere, die hier geblieben sind in dieser kargen Gegend, die im Frühling noch grün ist, im Sommer aber zur Wüste werden wird. Es ist Angst und Panik, die sie hier bleiben lässt.

Ohne Perspektive

Ortswechsel: Der Ort Sharia nahe der Großstadt Duhok. Das Dorf hatte einmal 4000 Einwohner. Heute sind es mindestens 20.000. Auf dem Hauptplatz stehen Marktstände, vor den Teehäusern sitzen junge Männer auf grellroten Plastiksesseln. Es riecht nach Frühling und gebratenem Fleisch. Kinder betteln um Geld und Zigaretten.

Auf einem Feld neben der Landstraße stehen Plastikplanenverschläge. Und vor dem Ort erstreckt sich ein riesiges Flüchtlingslager über zwei Hügel. Zelte, so weit das Auge reicht. Knapp 19.000 Flüchtlinge leben hier. Die allermeisten, die hier sind, sind Jesiden aus Shingal, kaum drei Autostunden entfernt. Shingal ist heute eine Frontstadt im Krieg gegen den Islamischen Staat. Das Dorf Sharia ist Zufluchtsort für jene, die alles in diesem Krieg verloren haben und vor allem eines wollen: So weit wie möglich entfernt sein von Krieg, Tod und Gewalt. Am besten noch weiter als hier.

Vor einem Zelt steht Taura. Sie hat ein Kind auf dem Arm. Daneben stehen ein kleiner Junge und ein Mädchen. Sie lebt mit ihrem Mann in einem kleinen Zelt. Sie lächelt und sagt: "Drei Tage war ich in Gefangenschaft des IS." Sie konnte fliehen – und sie weiß, was mit jenen Frauen geschehen ist, die nicht entkamen.Als die kurdischen Peschmerga im Sommer 2014 die Stadt Shingal aufgaben und der IS den gleichnamigen Gebirgszug einschloss, nahm der IS massenhaft Gefangene. Männer wurden von Frauen getrennt. Die allermeisten Männer wurden erschossen, einige, überwiegend alte oder Behinderte, wurden gefangen genommen. Frauen wurden in einer generalstabsmäßig geplanten Aktion versklavt. Taura sagt heute nach fast zwei Jahren Lagerleben: "Hier gibt es keine Zukunft." Und sie ergänzt: "Wir können nicht mehr unter Muslimen leben." Nachsatz: "Wir wollen weg."

1,8 Mio. Flüchtlinge

So wie sie denkt die Mehrheit hier. Inmitten spielender Kinder hockt eine Gruppe junger Männer auf einem Eisengeländer. Sie rauchen und schauen ihren kleinen Geschwistern und Cousins zu, wie sie Räder schlagen und Handstände machen, tauschen Handy-Videos aus, kichern. Es gibt zwar einen Schulbetrieb in dem Lager. Aber der Betrieb hält dem Andrang kaum stand. Eine weiterführende Ausbildung für Absolventen gibt es nicht.Die Burschen sitzen und rauchen. Und nur einer sagt: "Ich bleibe, was auch kommen mag." Die anderen sagen: "Was sollen wir hier machen?"

Zwischen 1,2 und 1,8 Millionen Menschen (bei rund 5,5 Mio. Einwohnern) haben sich vor dem IS in den Norden des Irak in die Autonome Region Kurdistan geflüchtet – Kurden, Jesiden, einige Schiiten und bis zu 700.000 sunnitische Araber. Diese Massenflucht, der tobende Krieg sowie eine schwere Wirtschaftskrise infolge des niedrigen Ölpreises haben der Region schwer zugesetzt.

Aus Bagdad erhält die kurdische Regionalregierung kein Geld mehr – und ist damit auf sich gestellt. Faktisch betrachtet man sich in Kurdistan längst als eigenständiger Staat und sieht sich nur einen Schritt von der formellen Unabhängigkeit entfernt. Bagdad erhebt aber nach wie vor Anspruch auf die Region. Das führt zu Konflikten, die sich militärisch (in Reibereien bei der Offensive auf den IS in Mossul) wie politisch (Gebietsstreitigkeiten) auswirken.

"Viele wollen gehen"

Zwar ist es gelungen, den allermeisten Flüchtlingen in Kurdistan eine winterfeste Unterkunft zu ermöglichen. Aber was es nicht gibt, ist eine Perspektive. Das gilt für alle Flüchtlinge, seien sie Muslime oder Jesiden, Kurden oder Araber. Und ein baldiges Ende des Krieges und damit der Krisen ist nicht in Sicht.

Noch ein Ortswechsel.

Für immer gezeichnet: Die Jesiden in den Shingal-Bergen
Bildunterschrift
In Sherfedin, der wichtigsten Pilgerstätte der Jesiden an den Hängen des Shingal-Gebirges, hat Nazer Suleiman das Sagen. Im Inneren des Tempels binden Gläubige Knoten in an den Wänden hängende Tücher – und deponieren damit Wünsche. Nazer Suleiman spricht Segen für die Eintretenden. Er ist Priester des Tempels, hat selbst mit dem Gewehr in der Hand dieses Heiligtum gegen den IS verteidigt. Gerade hat er zwei am selben Tag nicht weit von hier getötete jesidische Kämpfer begraben. Trauernde zieht über den Platz vor dem Tempel. Frauen in Tränen. Kinder. Alte.

Was seine Gemeinde angeht, so ist Nazer Suleiman Realist: "Sehr viele Jesiden wollen dieses Land verlassen, sehr viele werden gehen." Und er sagt, bei einem Glas Tee auf dem Steinboden vor dem Tempel sitzend: "Ich glaube nicht, dass bald viele hierher zurückkommen werden." Viel eher sagt er: "Nicht alle werden gehen." Danach fragt er nach der Lage in Griechenland. Denn dort steckt gerade einer seiner Onkel fest.

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