Franzosen streiken wieder: Debatten über „Faulheit“ der Bevölkerung

Streik im Jänner - Streik auch wieder am Dienstag
Aus Paris, Simone Weiler
Die Gegner der geplanten Pensionsreform von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron rüsten sich für die beiden nächsten großen Streiktermine am Dienstag und am Samstag. Sie wollen den Druck auf die Regierung aufrecht erhalten, nachdem an den beiden ersten Protesttagen seit Mitte Jänner landesweit mehr als eine Million Menschen gegen die geplante Erhöhung des gesetzlichen Pensionantrittsalters von 62 auf 64 Jahre demonstrierten.
Erst am Sonntag hatte die Regierung eingelenkt und angekündigt, dass zumindest jene, die bereits mit 20 oder 21 Jahren zu arbeiten begonnen haben, mit 63 Jahren in Pension gehen können sollen.Trotzdem wird ein großer Anteil der Bus-, Metro- und Zugfahrer, der Lehrer, Beamten sowie Mitarbeiter von Raffinerien und Elektrizitätswerken erneut die Arbeit niederlegen. Mehr als zwei Drittel der Französinnen und Franzosen unterstützen laut Umfragen die Streiks, auch wenn diese ihr Alltags- und Berufsleben einschränken.
Die Regierung argumentiert, dass ein späterer Pensionsantritt in einer zunehmend alternden Bevölkerung notwendig wäre. Warum also stemmen sich die Franzosen derart gegen einen Schritt, wie ihn fast alle anderen europäischen Länder längst durchgesetzt haben?
"Recht auf Faulheit?"
Innenminister Gérald Darmanin, ein Hardliner, der ursprünglich aus den Reihen der konservativen Republikaner kommt, pries in einem Interview eine „Gesellschaft der Arbeit und des Verdienstes“ an und kritisierte die linke Opposition, die diese Werte ablehne, ja für ein „Recht auf Faulheit“ eintrete.
Dieses Recht hatte die grüne Frontfrau Sandrine Rousseau zuletzt gefordert. In einer Umfrage pflichteten ihr 69 Prozent der Franzosen bei. Einer OECD-Studie aus dem Jahr 2021 zufolge sind diese übrigens produktiver als etwa die Deutschen.
Druck auf Arbeiter
Solche Diskussionen führen für die auf die Arbeitswelt spezialisierte Soziologin Daniele Linhart am eigentlichen Thema vorbei. Als Ursache für die massive Ablehnung der Pensionsreform sieht sie die oftmals harten Bedingungen in französischen Unternehmen, welche nicht vereinbar mit den Ansprüchen der Mitarbeiter seien.
Linhart verweist auf Management-Praktiken, die Arbeitnehmer in Frankreich seit den 80er-Jahren großem Druck aussetzen und eine starke Unterordnung in einer Hierarchie einfordern. Die repressive Haltung sei als Reaktion auf harte, von den Kommunisten angeführte Klassenkämpfe zwischen 1945 und 1975 entstanden.
„Die Franzosen wollen sich in ihrer Arbeit für die Gesellschaft nützlich und anerkannt fühlen. Sie identifizieren sich mit ihr, erwarten besonders viel – und werden besonders stark enttäuscht. Das zeigen vergleichende Studien“, so Linhart.
Zu ihnen gehört die Erhebung „European Social Survey“, in der nur zwölf Prozent angaben, dass sie den Job haben, den sie sich wünschen. „Es gibt in Frankreich eine hohe Zahl an Fällen von Burnout, Selbsttötung am Arbeitsplatz oder von Menschen, die auf Drogen oder Alkohol zurückgreifen, um durchzuhalten“, sagt Linhart.
Weder die Politik noch die Gewerkschaften nehmen sich der Expertin zufolge ausreichend der Frage nach humanen Arbeitsbedingungen an.
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