Die Regierung argumentiert, dass ein späterer Pensionsantritt in einer zunehmend alternden Bevölkerung notwendig wäre. Warum also stemmen sich die Franzosen derart gegen einen Schritt, wie ihn fast alle anderen europäischen Länder längst durchgesetzt haben?
"Recht auf Faulheit?"
Innenminister Gérald Darmanin, ein Hardliner, der ursprünglich aus den Reihen der konservativen Republikaner kommt, pries in einem Interview eine „Gesellschaft der Arbeit und des Verdienstes“ an und kritisierte die linke Opposition, die diese Werte ablehne, ja für ein „Recht auf Faulheit“ eintrete.
Dieses Recht hatte die grüne Frontfrau Sandrine Rousseau zuletzt gefordert. In einer Umfrage pflichteten ihr 69 Prozent der Franzosen bei. Einer OECD-Studie aus dem Jahr 2021 zufolge sind diese übrigens produktiver als etwa die Deutschen.
Solche Diskussionen führen für die auf die Arbeitswelt spezialisierte Soziologin Daniele Linhart am eigentlichen Thema vorbei. Als Ursache für die massive Ablehnung der Pensionsreform sieht sie die oftmals harten Bedingungen in französischen Unternehmen, welche nicht vereinbar mit den Ansprüchen der Mitarbeiter seien.
Linhart verweist auf Management-Praktiken, die Arbeitnehmer in Frankreich seit den 80er-Jahren großem Druck aussetzen und eine starke Unterordnung in einer Hierarchie einfordern. Die repressive Haltung sei als Reaktion auf harte, von den Kommunisten angeführte Klassenkämpfe zwischen 1945 und 1975 entstanden.
„Die Franzosen wollen sich in ihrer Arbeit für die Gesellschaft nützlich und anerkannt fühlen. Sie identifizieren sich mit ihr, erwarten besonders viel – und werden besonders stark enttäuscht. Das zeigen vergleichende Studien“, so Linhart.
Zu ihnen gehört die Erhebung „European Social Survey“, in der nur zwölf Prozent angaben, dass sie den Job haben, den sie sich wünschen. „Es gibt in Frankreich eine hohe Zahl an Fällen von Burnout, Selbsttötung am Arbeitsplatz oder von Menschen, die auf Drogen oder Alkohol zurückgreifen, um durchzuhalten“, sagt Linhart.
Weder die Politik noch die Gewerkschaften nehmen sich der Expertin zufolge ausreichend der Frage nach humanen Arbeitsbedingungen an.
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