Flüchtlingsdrama: EU soll rasch Lösungen erarbeiten

Suchaktion der italienischen Küstenwache zwischen Libyen und Sizilien: Sonntagabend waren 28 Menschen gerettet und 24 Leichen geborgen.
Laut Überlebendem sogar 950 Menschen an Bord. Politik will "Todesfahrten" beenden, EU-Krisensitzung am Montag.

Es müssen sich furchtbare Szenen an Bord des laut eines Überlebenden mit rund 950 Menschen überfüllten Fischkutters abgespielt haben. Am Samstag um 23.30 Uhr wurde ein Notruf abgesetzt. Die italienische Küstenwache beorderte einen portugiesischen Frachter zu dem Flüchtlingsschiff.

Als die Lichter des Frachters am Horizont auftauchten, drängten sich die Menschen auf eine Relingseite. Es waren zu viele. Das Schiff kenterte rund 110 Kilometer vor der libyschen Küste im Kanal von Sizilien. Die Besatzung des Frachters hatte kaum Chancen, Menschen aus den eiskalten Fluten zu ziehen. Viele Flüchtlinge seien im Laderaum eingeschlossen gewesen, schildert ein Überlebender. "Die Schmuggler haben die Türen geschlossen und verhindert, dass sie herauskommen", erzählte der Mann. Offenbar konnten nur 28 Menschen gerettet werden (Mehr zur Tragödie lesen Sie hier).

Auch die nächtliche Suche am Sonntag hat bisher zu keinerlei Resultaten geführt. Die Rettungseinheiten fanden bisher weder Überlebende noch Leichen, berichteten italienische Medien Montag früh.

"Todesfahrten müssen ein Ende haben"

Flüchtlingsdrama: EU soll rasch Lösungen erarbeiten
ABD0043_20150325 - WIEN - ÖSTERREICH: BM Johanna Mikl-Leitner am Mittwoch, 25. März 2015, anl. einer Sitzung des Nationalrates mit Aktueller Stunde "Gemeinsam gegen den Terror" im Parlament in Wien. - FOTO: APA/HERBERT PFARRHOFER
"Die Todesfahrten müssen endlich ein Ende haben", verlangt Österreichs Innenministerin Johanna Mikl-Leitner angesichts der neuerlichen Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer. Sie setzt sich für ein Umdenken in der Flüchtlingspolitik ein, Ziel müsse sein, dass die Flüchtlinge gar nicht erst in Versuchung kommen, "abscheuliche Schlepperbanden" zu beauftragen, für sie einen Weg durch das Mittelmeer nach Europa zu suchen.

Erstprüfung

Flüchtlingsdrama: EU soll rasch Lösungen erarbeiten
A Syrian refugee walks with her children during rainy weather at the Al Zaatari refugee camp in the Jordanian city of Mafraq, near the border with Syria March 29, 2015. REUTERS/Muhammad Hamed
Bereits im vergangenen Jahr habe sie das Projekt "Save Lifes/Leben Retten" vorgeschlagen, die Europäische Union arbeite derzeit an einem Pilotprojekt. Kern von Mikls Vorschlag: Flüchtlinge sollen bereits in Nordafrika erfahren, ob sie eine Chance auf Asyl in Europa haben. Dafür soll in den nordafrikanischen Lagern des UNO-Flüchtlings-Hochkommissariat UNHCR unter sicheren Bedingungen eine Erstprüfung stattfinden.

"Wer tatsächlich eine Chance hat, soll dann für eine konkretes Aufnahmeverfahren nach Europa gebracht werden", erklärt Mikl-Leitner ihren Vorschlag. Den Flüchtlingen müsse klar gemacht werden, dass eine sichere Passage nach Europa nur über das UNHCR, und nicht über Schlepperbanden möglich ist. Zentraler Punkt ihres Vorschlags: Flüchtlinge, die im Mittelmeer von den Europäern aufgegriffen werden, sollen nicht nach Europa, sondern in die großen Lager des UNHCR nach Nordafrika gebracht werden, wo die Erstprüfung stattfindet. "Denn Seenot ist Teil der perfiden Strategie der Schleppermafia", sagt Mikl-Leitner.

EU-Krisensitzung am Montag

Am Montag wollen sich die 28 EU-Außenminister mit EU-Außenministerin Federica Mogherini dem schwer vernachlässigten Thema stellen. Das Thema Einwanderung wurde nach der Flüchtlings-Tragödie von Samstagnacht offiziell auf die Tagesordnung gesetzt. Außenminister Sebastian Kurz will dabei den Vorschlag Mikl-Leitners einbringen.

Mogherini gab am Sonntag zu, dass das Problem immer größer wird: "Wir müssen weiter an den Wurzeln der Einwanderung ansetzen – vor allem an der Instabilität einer Region, die größer und größer wird, vom Irak bis nach Libyen", so Mogherini. Die EU-Staaten müssten mit Handlungen zeigen, dass sie die europäischen Grundwerte teilten.

Auch der Präsident des EU-Parlaments, Martin Schulz forderte ein Umsteuern. "Wir können nicht an dem Symptom weiter herumdoktern, sondern müssen erkennen, dass wir ein Einwanderungsgebiet sind und eine legale, geordnete Einwanderungspolitik benötigen", sagte Schulz dem Kölner Stadt-Anzeiger. UN-Generalsekretär Ban Ki-moon die Weltgemeinschaft aufgefordert, die Flüchtlingskrise gemeinsam zu schultern.

Flucht aus Armut

Flüchtlingsdrama: EU soll rasch Lösungen erarbeiten
Caritas-Präsident Michael Landau im Interview am 19.12.2014 in Wien.
Österreichs Caritas-Chef Michael Landau fordert ein Umdenken in Europa: "Die EU-Staaten müssen mehr Mittel zur Verfügung stellen, aber nicht für mehr Grenzzäune, sondern für mehr Rettungsboote."

Das von Italien aus Kostengründen eingestellte Flüchtlingsprogramm Mare Nostrum, bei dem tatsächlich viele Menschen gerettet werden konnten, habe gerade einmal so viel gekostet wie der nächste EU-Gipfel, erinnert Landau.

Und derzeit sei eine "legale Einreise in Europa aus Armut de facto unmöglich." Menschen auf der Flucht müsse aber die Möglichkeit gegeben werden, Europa legal zu erreichen, verlangt der Caritas-Chef eine Änderung der Politik in Europa.

Mahnwache in Wien

Für Montag hat die Caritas ab 18 Uhr gemeinsam mit Organisationen wie dem Roten Kreuz und "SOS Mitmensch" zu einer Mahnwache am Minoritenplatz aufgerufen.

Der Journalist Karim El-Gawhary beschrieb vor einiger Zeit die Geschichte der Flucht einer Mutter und ihrer vier Kinder über das Meer auf der Suche nach einem Platz zum Leben. Nicht weit von der Küste entfernt sank das Boot und übergab die Flüchtlinge dem nächtlichen Meer. Die Mutter hatte als Einzige eine Schwimmweste an, ihre 3-, 5-, 6- und 8-jährigen Kinder hielten sich an ihr fest. Sie alle drohten zu ertrinken, doch die Mutter konnte sich nicht entscheiden, welches Kind sie loslassen sollte. Am Ende ging ihnen die Kraft aus. Eine Tochter nach der anderen ließ los und tauchte für immer ab. Als Rettung Stunden später eintraf, waren nur noch die Mutter und die älteste Tochter am Leben.

Täglicher Horror

Horror wie dieser spielt sich nun täglich im südlichen Mittelmeer ab. "Das Mittelmeer darf nicht zum Massengrab werden", mahnte verzweifelt auch Papst Franziskus die Mächtigen in Europa.

Ist es zu viel von Österreichs und Europas Politikern verlangt, solche Tragödien mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln zu verhindern? Keine Ausreden und gegenseitige Anschuldigungen mehr gelten zu lassen, und konkrete Aktionen einzufordern? Wie viele Menschen, wie viele Kinder müssen an unserer südlichen Grenze noch sterben, bis die EU und ihre Mitgliedsstaaten – also wir alle – endlich handeln?

Jedes Bootsunglück ist ein schwarzer Tag für die Menschlichkeit und für unsere Grundsätze in Europa. Natürlich wird es keine raschen Lösungen geben. Selbst der Vorschlag der Innenministerin, große Erstaufnahmezentren in Nordafrika zu errichten, wird Zeit zur Umsetzung benötigen. Aber es ist jedenfalls ein Ansatz, wie wir verhindern könnten, dass täglich Männer, Frauen und Kinder an unseren Küsten krepieren.

Flüchtlingsdrama: EU soll rasch Lösungen erarbeiten

Zehntausende Flüchtlinge aus den Krisengebieten Afrikas und Vorderasiens warten an der Küste Libyens auf ihre "Chance". Sie wollen nach Europa, doch die Überfahrt über das Mittelmeer ist gefährlich, wie die jüngste Katastrophe vor Lampedusa erneut bewies. Warum nehmen diese Menschen das tödliche Risiko auf sich? Einige Fragen und Antworten zum Drama in den Gewässern zwischen Libyen und Italien:

Warum stechen die Boote gerade von Libyen aus in See?

Nach dem Sturz des Langzeit-Diktators Muammar al-Gaddafi 2011 ist das Land nach und nach im Chaos versunken. Es gibt keine funktionierende Regierung. Die Mittelmeerküste zieht sich über Hunderte Kilometer hin. Das Nachbarland Tunesien liegt wesentlich näher an Lampedusa, doch sind die Küsten dort viel besser bewacht.

Was erleichtert den Schleppern gerade in Libyen das Geschäft?

Im Land herrschen verschiedene Milizen, die sich nebenbei im einträglichen Schlepper-Geschäft verdingen. Flüchtlinge aus dem Inneren Afrikas sind auf ihre Dienste bereits angewiesen, wenn sie die große Libysche Wüste durchqueren wollen, die auf ihrem Weg zur Mittelmeerküste liegt.

Was kostet so eine Überfahrt mit ungewissem Ausgang?

Quellen in Libyen sprechen von einem Preis zwischen 500 und 1000 Euro pro Person. Es ist ein schmutziges Geschäft, nicht nur wegen der bedingt seetauglichen Schiffe, auf die die Fluchtwilligen gepackt werden. Oft zwingen sie die geldgierigen Milizionäre mit brutaler Gewalt auf die Schiffe, wie der Italien-Chef von Amnesty International, Gianni Rufini, bestätigte. Aber auch die unmenschlichen Zustände in den libyschen Auffanglagern veranlassen viele Flüchtlinge, sich auf die gefährliche Überfahrt einzulassen.

Aus welchen Ländern kommen die Migranten, weshalb verlassen sie ihre Heimat?

Im Vorjahr stand unter den Herkunftsländern Syrien an erster Stelle, gefolgt von Eritrea und verschiedenen Ländern Schwarzafrikas. In Syrien fliehen die Menschen vor einem mörderischen Bürgerkrieg mit bisher mehr als 200.000 Toten. In Afrika treiben Hunger, Dürren, chaotische Verhältnisse und islamistische Terrormilizen wie die nigerianische Boko Haram die Menschen massenhaft in die Flucht.

Kommentare