Nicht alle wollen in den reichen Westen

Nicht alle wollen in den reichen Westen
Mit 108 Millionen Menschen gibt es derzeit so viele Flüchtlinge wie noch nie. Europa ist nicht für alle das Ziel – viele fliehen vor allem in ihre Nachbarländer.

Von Lara Güven

78 Tote, mehr als 200 Vermisste: Dass ausgerechnet an jenem Tag, an dem das UNO-Flüchtlingshochkommissariat UNHCR die weltweiten  Fluchtzahlen  präsentierte, im Mittelmeer fast 80 Menschen ertranken, illustriert den Inhalt des Berichts auf mehr als traurige Weise. Seit 2014  kamen bereits mehr als 20.000  Menschen im Mittelmeer bei Fluchtversuchen ums Leben. 
Auch global hat die Zahl an Flüchtlingen einen neuen Höchstwert erreicht.  108,4 Millionen Menschen können nicht mehr an ihrem Heimatort leben,  zehn Millionen mehr also noch vor einem Jahr. Grund für diese Migrationswelle ist die wachsende Zahl an Kriegen, Konflikten, Verfolgungen und Gewalt in der Welt. UNO-Hochkommissar Filippo Grandi spricht darum von einem „Armutszeugnis für den Zustand unserer Welt“.

Putins Krieg

Einer der größten Faktoren, der die Migrationsquote anwachsen ließ, ist der  russische Angriffskrieg  gegen die Ukraine.  Die Invasion initiierte 2022 den schnellsten Anstieg  an Flüchtlingszahlen  seit dem Zweiten Weltkrieg –   5,7 Millionen Menschen flüchteten in andere europäische Länder,  fast sechs Millionen blieben innerhalb der Grenzen, sie sind sogenannte Binnenvertriebene. 

Im Sudan wurden noch vor Ausbruch des Bürgerkriegs im April rund viereinhalb Millionen Menschen vertrieben – ein Zehntel der Bevölkerung. Das Krisengebiet Jemen kommt auf 4,6 Millionen Binnenvertriebene und 97.000 Flüchtlinge im Ausland. Trotzdem beherbergt der Jemen selbst 137.000 Flüchtlinge aus Somalia und Äthiopien. Syrien hat mit 13,3 Millionen Flüchtlingen – das  entspricht  fast 60 Prozent  der Gesamtbevölkerung –  den höchsten Flüchtlingsanteil weltweit. Kriege und Konflikte sind jedoch nicht die einzigen Ursachen für die hohe Anzahl an Flüchtlingen. Auch brutale Regime provozieren Massenflucht. Die Machtübernahme der Taliban in Afghanistan und die regierende Junta in Myanmar vertrieben weitere Millionen aus ihrer Heimat. Vor allem die politische Lage in Venezuela  führte zu einer Massenmigration – mit  5,5 Millionen Flüchtlingen entstand hier im Vergleich zum Vorjahr die  zweitgrößte Flüchtlingsbewegung der Welt.

Vor allem im Inland

Dass all diese Flüchtlinge vor allem in reiche Länder in Europa oder Nordamerika flüchten, ist ein Mythos, wie der UNHCR-Bericht belegt. „Es ist falsch, wenn behauptet wird, alle streben in die reichen Länder nach Europa oder Nordamerika“, wird Grandi darin zitiert.

Zwei Drittel der Flüchtenden  sind sogenannte Binnenvertriebene. Einzig ein Drittel flieht ins Ausland, wovon wiederum zwei Drittel in Länder mit niedrigen oder mittleren Einkommen landen. Ein Großteil flieht ohnehin in Nachbarländer, in der Hoffnung auf eine baldige Heimkehr. Unter den Hauptaufnahmeländern befinden sich die Türkei, wo bislang über 3,5 Millionen Flüchtende aufgenommen wurden, sowie der Iran, Kolumbien und Deutschland. 

Nicht alle wollen in den reichen Westen

Die Lage im Libanon ist ebenfalls prekär, da hier von knapp sieben Millionen Einwohnern eine  Million Flüchtlinge zu versorgen sind.  „Ausgerechnet die ärmsten Länder zeigen die größte Aufnahmebereitschaft und tragen die größte Last“, teilte die deutsche Entwicklungsministerin Svenja Schulze (SPD) in Berlin mit.

UN-Hochkommissar  Filippo Grandi warb darum um mehr legale Migrationsmittel, um Asylsysteme weniger zu überlasten und um lebensgefährliche Fluchtreisen wie jene am Mittwoch mit knapp 80 Toten zu vermeiden. Er betonte: „Asyl zu beantragen ist keine Straftat.“ 

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