"Fataler Fehler der Kanzlerin"

Klaus Wowereit beim Interview im Wiener Grand Hotel
Der frühere Berliner Bürgermeister über Merkel, Böhmermann und die Verunsicherung der Bürger.

Er ist einer der schillerndsten Politiker der jüngeren deutschen Geschichte. Mit "Ich bin schwul – und das ist auch gut so" startete er 2001 ins Berliner Bürgermeisteramt. Dazwischen für SPD-Vorsitz und Kanzlerkandidatur gehandelt, zog er sich 14 Jahre später ins Privatleben zurück – mit 62. Diese Woche hielt er die Laudatio bei der ROMY-Verleihung an Regina Ziegler – und traf den KURIER zum Gespräch.

KURIER: Herr Wowereit, Sie haben die Politik in einem Alter verlassen, in dem andere erst durchstarten. Hatten Sie so die Schnauze voll?

Klaus Wowereit: Nein, ich war auch in schweren Zeiten gerne in der Politik. Aber ich war immer für eine Begrenztheit – nicht formal, aber zehn Jahre plus war für mich im Beruf immer eine gute Zeit.

Sind Sie heute froh, nicht mehr in der Politik zu sein?Wenn man die Zeitung aufschlägt, denkt man manchmal: Gott sei Dank bist du da nicht mehr drin. Aber wenn etwas schiefläuft und man glaubt, das hätte anders entschieden werden müssen, tut es einem auch leid, dass man nicht reinhauen und mitmischen kann.

Stichwort: Die SPD liegt mit 20 Prozent schlecht wie nie.

Die beiden großen Volksparteien, die CDU war ja auch mal bei 44 und ist jetzt eher bei 34, leiden unter dem Ansehensverlust, den wir auch in Österreich sehen. Die Bürger sind enttäuscht und glauben, den Großen eins auswischen zu müssen. Das ist aber eine falsche Reaktion, weil damit kleine Parteien, die gar nicht in der Lage sind zu regieren, einen Einfluss bekommen, der ihnen nicht zusteht.

Wieso ist der Protest jetzt so groß?

Wirtschaftlich geht’s den Leuten ja gut. Aber die Flüchtlingskrise hat verunsichert und stark polarisiert. Die einen nehmen Flüchtlinge mit offenen Armen auf, die Anderen haben Ängste, etwa vor kultureller Verfremdung, und reagieren instinktiv mit Abwehr. Das ist für eine Volkspartei eine sehr schwierige Situation, zumal auch in unseren eigenen Reihen beide Meinungen vertreten sind. Da einen klaren Kurs zu fahren, ist unheimlich wichtig. Aber wenn da eine Million ankommt, wird auch der freundlichste Integrationsbefürworter grübelnd.

Noch zur SPD: Gabriel ist "Teil des Problems", schreibt die "Zeit".

Auch jemand anderer würde für die SPD nicht mehr einfahren – so lange die Linke bei zehn Prozent und die Grünen bei zehn, zwölf liegen – wo sollen die Stimmen herkommen? Das ist reine Mathematik, mehr als 50 Prozent sind nicht da.

Nächster Kanzlerkandidat ist Gabriel?

Davon gehe ich aus. Die SPD wird kämpfen, auch wenn das in Zeiten einer sozialdemokratisierten Kanzlerin nicht so leicht ist.

Wieso sozialdemokratisiert?

Sie hat in vielen Fragen kapituliert und sehr opportunistisch entschieden, ob in sozialen Fragen oder in Flüchtlingsfragen – da ist die Position, die sie vertritt, eher in der SPD wiederzufinden.

Merkel hat die SPD kannibalisiert?

Ich habe selber auch eine große Koalition geführt. Das ist immer schön für den starken Partner, auch wenn der kleinere gute Arbeit macht. Ich finde überhaupt, große Koalitionen sollten immer die letzte Möglichkeit sein.

"Merkel regiert, die Männer (Seehofer, Gabriel) reden", schreibt der "Spiegel".

Zu regieren ist ihre Aufgabe. Manchmal merkt man es nicht. Manchmal schweigt sie zu lange, manchmal redet sie zu schnell. Sie ist eine sehr vorsichtige Frau, wenn es einen Konflikt gibt, hält sie sich gerne auf der Zuschauertribüne auf.

Wie beurteilen Sie ihren Kurs in der Flüchtlingspolitik?

Merkel, Deutschland werden weltweit gelobt – da hat sie angesichts der schrecklichen Bilder ein Zeichen gesetzt. Dass diese Flüchtlingswelle ausgelöst würde, hat sie sicher so auch nicht gesehen. Ob sie es heut noch einmal so machen würde, wage ich zu bezweifeln.

Hat sie auf diese Welle zu spät reagiert?

Man hätte sich darauf vorbereiten müssen. Hier hat es ein totales Versagen der EU gegeben. Die Egoismen sind so groß, als ob die EU ein temporäres Zweckbündnis wäre. Das wird jetzt alles an Merkel abgearbeitet. Viele Regierungen, die mit Rechtspopulisten zu kämpfen haben, sind auch nach rechts gerückt, das macht alles besonders schwer. Und dann sind wir noch abhängig vom Wohlverhalten von Politikern wie Erdogan oder Putin, das ist schwer zu ertragen.

Apropos: Verstehen Sie den Schwenk der Faymann-SPÖ vom "Willkommenskurs" zur Speerspitze für Grenzschließungen? Ihr Freund Michael Häupl hat damit wenig Freude.Das ist ein radikaler Schwenk und war wohl auch die Angst vor den Rechtspopulisten, auch im Zusammenhang mit der Präsidentschaftswahl. Da hat man sich nicht mehr so viel zugetraut. Aber Faymann hat schon auch recht, wenn er sagt, das kann Österreich nicht alleine lösen, auch Deutschland nicht, das muss Europa lösen.

Wie viele Flüchtlinge verträgt denn Europa?

Das ist die zentrale Frage. 90.000 in Österreich, ein Prozent der Bevölkerung, ist sicher eine hohe Belastung. Es geht ja nicht um die Aufnahme, sondern um die jahrzehntelange Integrationsarbeit. Wir haben in Deutschland mit Menschen mit Migrationshintergrund auch nach 30 Jahren noch Schwierigkeiten, haben Parallelgesellschaften, klar. Das muss bewältigt werden, und dass Menschen Angst haben, ist nachvollziehbar. Trotzdem muss man höllisch aufpassen, dass das nicht die Hochzeit jener wird, die das Elend der Menschen nicht anerkennen. Wenn man sich das Programm der AfD ansieht, deren Frauenbild zum Beispiel – das gehört ins 19. Jahrhundert, nicht in unseren Alltag.

Wie gefällt Ihnen das Böhmermann-Gedicht über Erdogan?

Darüber kann man sich vortrefflich streiten. Auch als Satire war das schon eine harte Nummer. Ich habe selbst auch Schmähtexte erlebt. Das kann man geschmacklos finden, man muss sich auch nicht alles gefallen lassen. Dafür haben wir eine Justiz. Was aber überhaupt nicht geht: Dass der Eindruck entsteht, ein auswärtiger Staatspräsident, der in seinem Land viele Beispiele für die Verletzung von Meinungs- und Pressefreiheit geliefert hat, könne als Zensor in Deutschland auftreten.

Die Regierung Merkel hat dem türkischen Antrag stattgegeben und die Staatsanwaltschaft zu Ermittlungen nach Paragraf 103 (Beleidigung ausländischen Staatschefs), also über die Privatklage hinaus, ermächtigt.

Furchtbar. Ich halte diese Entscheidung für falsch und einen Fehler. Merkel stellt sich damit unter Verdacht, sich in die Hände Erdogans zu begeben, weil der sie in ihrer Politik unterstützt. Das ist fatal! Der Zivilrechtsweg hätte gereicht.

Klaus Wowereit wurde am 1. Oktober 1953 in West-Berlin geboren und erlebte eine Reihe familiärer Schicksalsschläge (drei von vier Geschwistern starben nach Krankheit bzw. Unfall, ein Bruder ist querschnittgelähmt, Wowereit pflegte ihn lange). Der studierte Jurist wurde 2001 Regierender Bürgermeister von Berlin.

"Fataler Fehler der Kanzlerin"
epa02251851 Mayor of Vienna Michael Haeupl (L), accompanied by Klaus Wowereit, the governing Mayor of Berlin, during the opening ceremony at the Vienna Life Ball 2010 at Vienna's town hall square, in Vienna, Austria, on 17 July 2010. EPA/GEORG HOCHMUTH

Er machte die SPD nach 30 Jahren wieder zur stimmenstärksten Kraft der deutschen Hauptstadt und regierte zunächst mit einem linken Bündnis, später mit der CDU. Wowereit stand von Beginn an für eine rigide Sparpolitik, liebte schillernde Auftritte im bei TV-Veranstaltungen und bei Bällen und musste sich oft Vorwürfe eines mangelnden Krisenmanagements anhören.

"Fataler Fehler der Kanzlerin"
Former Berlin mayor Klaus Wowereit and his partner Joern Kubicki (R) arrive for the awards ceremony at the 65th Berlinale International Film Festival in Berlin February 14, 2015. REUTERS/Hannibal Hanschke (GERMANY - Tags: ENTERTAINMENT)

Sein Waterloo war die Kostenexplosion und Verzögerung beim Bau des immer noch nicht fertiggestellten Hauptstadt-Flughafens in Berlin, dessen Aufsichtsratsvorsitzender Wowereit ab 2006 war. 2013 trat Wowereit von dieser Funktion zurück, im Dezember 2014 auch als Bürgermeister. Wowereit, der auch einmal als Kanzlerkandidat der SPD im Gespräch war, ist seither privat und lebt mit dem Neurochirurgen Jörn Kubicki zusammen.

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