Experte zu Putins Syrien-Kurs: "Mehr Chaos, mehr Flüchtlinge"
KURIER: Der Westen hat fünf Jahre in Syrien nichts weitergebracht, jetzt versucht es Wladimir Putin – ist das nicht legitim?
Peter Neumann: Legitim wäre es dann, wenn eine realistische Chance bestünde, dass die Situation besser wird.
Die Chance gibt es nicht?
Als Reaktion auf Putins Eingreifen rüsten alle anderen Kriegsparteien auf: Jordanien will verstärkt die Opposition finanzieren, Türken, Kataris und Saudis wollen das im Norden tun. Der einzige, den das freut, ist der "Islamische Staat". Denn der wurde von den Russen fast überhaupt noch nicht angegriffen – sie haben bisher nur die Opposition angegriffen, die Syriens Präsident Assad bedroht. Dazu gehört der IS in den allermeisten Fällen nicht. Das wahrscheinliche Ergebnis wird eher mehr Chaos, mehr Extremismus und mehr Flüchtlinge sein.
Welche Motive hat Putin dann? Die Welt retten ist es vermutlich ja nicht.
Er hat sich das vermutlich so vorgestellt: Er kann Obama sehr schwach aussehen lassen und sich selbst auf der Weltbühne profilieren. Und er kann mit einem relativ leichten Eingreifen, mit ein, zwei, drei Monaten Luftschlägen, das Assad-Regime stabilisieren und dann sagen, so, jetzt finden unter meiner Ägide Friedensgespräche statt, ich bin derjenige, der den Konflikt löst.
Das kann so nicht passieren?
Das sieht eher unwahrscheinlich aus. Viele in den Bürgerkrieg involvierten Parteien wollen sich auf keinen Fall mit Putin und Assad zusammensetzen.
Den USA eins auszuwischen ist Putin wichtiger als strategisch einen Fuß am Mittelmeer zu behalten, den IS zu bekämpfen?
Natürlich ist Syrien strategisch für ihn wichtig, aber Russland hat auch vorher schon Assad unterstützt. Das hätte es weiter tun können, ohne so zur Kriegspartei zu werden. Und natürlich will er den IS aus eigenen Interessen zurückdrängen, aber er macht den Fehler zu glauben, das Problem so lösen zu können wie er das Problem der Rebellen in Tschetschenien vor 15 Jahren gelöst hat: indem er es einfach platt macht.
Und das geht nicht?
In Tschetschenien hat damals keiner hingeschaut, in Syrien schauen alle hin. Jeder Zivilist, der umkommt, wird dokumentiert. Und in Tschetschenien war die russische Bevölkerung bereit, auch große Opfer in Kauf zu nehmen für den "Zusammenhalt Russlands". Syrien ist eher so wie damals Afghanistan: Das kann man machen, muss man aber nicht. Die Russen müssen aufpassen, dass sie langfristig nicht in einen Konflikt reingezogen werden, aus dem sie nicht mehr so leicht rauskommen. Das ist nicht der erste Krieg, der nach dem Motto begonnen wird: Weihnachten ist alles vorbei ...
Muss der Westen mit Assad leben lernen?
Ja, aber das war immer schon der Fall. Die Idee, dass man Assad vertreiben kann und die zersplitterte Opposition die Gebiete übernimmt, funktioniert nicht. Assad ist in Teilen Syriens bei einigen Bevölkerungsgruppen durchaus sehr populär. Auch wenn klar ist, dass es kein Zurück zur Situation von 2011 gibt, dass Assad bestimmte Teile des Landes nie mehr kontrollieren wird.
Wie sähe dann eine Lösung für Syrien aus, wenn es doch zu Gesprächen kommen sollte?
Wie in Bosnien: Eine lockere Konföderation. Das Land bleibt bestehen, auch wenn die Einzelstaaten eine so große Autonomie haben, dass sie praktisch nichts miteinander zu tun haben.
Das soll bei den unzähligen Rebellengruppen funktionieren?
Sie haben recht mit Ihrem Zweifel, aber es gibt keine Alternative. Man kann den Konflikt nur einfrieren, weil keine Seite gewinnen kann. Das ungewollt Positive jetzt ist übrigens, dass sich viele Oppositionsgruppen zusammenschließen. Schnelle Lösung wird es keine geben.
Der Versuch des Demokratie-Exports in den arabischen Raum und nach Syrien ist jedenfalls gescheitert?
Ja, wenn man sich die Landkarte anschaut. Jetzt passiert eine historische Transformation , wie es in Europa der 30-jährige Krieg oder der I. Weltkrieg war, wo eine ganze Ordnung zerfällt. Und wir sind mittendrin im Jahr 1916. Keiner weiß genau, was am Ende dieser Transformation stehen wird. Das hat selbst die Vorstellung und die Macht der Vereinigten Staaten überschritten.
Zurück zum IS: Der macht bei einer Friedensordnung nie mit. Ist er je zu besiegen?
Ein Frieden in Syrien muss erst mal ohne IS stattfinden. Und er ist konventionell nicht zu besiegen, wie Putin sich das vorstellt. Dadurch wird er eher noch stärker, weil der externe Feind Zulauf bringt. Der Kampf gegen Russland wird jetzt schon im Internet genutzt, um neue Auslandskämpfer zu holen.
Das heißt, der IS wird stärker?
Nein, das muss er nicht. Dieser IS ist im Prinzip auf Dauer nicht überlebensfähig. Er produziert nichts, er hat kein politisches oder ökonomisches Modell – es handelt sich um eine Beuteökonomie, wie seinerzeit Nazi-Deutschland, er muss ständig neue Gebiete an sich ziehen, um das Restgebiet am Laufen zu halten. Daher brauchen wir eine aggressive Strategie der Eindämmung. Der IS darf kein Territorium dazugewinnen, muss isoliert sein, dann wird die Situation des "Islamischen Staates" so harsch, dass sich die Stämme, die ihn unterstützen, gegen den IS wenden.
Die USA und Putin versuchen diese Eindämmung.
Ja, und der IS hat sich auch nicht weiter ausgebreitet. Die Vorhersagen, Bagdad fällt bald, Saudiarabien, Jordanien sind in Gefahr – das ist alles nicht passiert. Isolieren, eindämmen, warten, dass der IS zusammenbricht – das kann innerhalb von zwei, drei Jahren passieren.
Was heißt das alles für die weltweite Terrorgefahr durch Dschihadisten des IS?Das, was im Nahen Osten gerade passiert, hat eine ganze Generation von Leuten produziert, die in den kommenden Jahren auch in Europa terroristische Anschläge verüben werden. Alleine aus Europa sind mindestens 5000 Auslandskämpfer nach Syrien und in den Irak gegangen. Nicht jeder wird zum Terroristen, einige werden sterben, aber einige werden gefährlich werden. Dazu kommen jene Unterstützer des IS, die in Europa geblieben sind und die für die meisten Anschläge bisher verantwortlich waren. Das wird uns noch Jahre beschäftigen.
Die Terrorgefahr wächst?
Die wächst. Allein in Belgien sind 500 Kämpfer in den Irak gegangen. Die Sicherheitsbehörden sind mit dieser Gefahr völlig überfordert, weil dafür nicht ausgerichtet.
Bleibt der Terror einer der Einzelkämpfer, oder kann der IS auch so etwas wie den großen Coup, eine Art 9/11, planen?Wir werden noch mehr von den "kleineren" Anschlägen sehen. Erstens, weil der IS genug zu tun hat, sich aufs eigene Territorium zu konzentrieren. Zweitens, weil der IS im Gegensatz zu El Kaida begriffen hat, dass man auch mit relativ "kleinen" Anschlägen buchstäblich Terror ausüben kann. Es reicht das Bild einer Enthauptung im Internet, das löst mindestens so viel Terror, Schrecken, aus, wie wenn man in London einen Bus sprengt.
Stichwort Flüchtlingswelle: Die einen sorgen sich vor Terroristen, die mit der Flüchtlingswelle nach Europa kommen, die anderen sagen, viel größer ist die Gefahr der Radikalisierung der Migranten hier.
Wenn, dann eher Zweiteres. Dass der IS aktiv Leute nach Europa einschleust, ist bisher nicht bekannt. Es gab einen Fall in Deutschland, aber der wurde von den Flüchtlingen der Polizei gemeldet – die haben selbst kein Interesse, dass solche Leute den Weg nach Europa finden. Auch dass jetzt Salafisten die Neuankömmlinge rekrutieren, glaube ich nicht – das Letzte, wenn ich gerade die Flucht überstanden habe, ist, dass mir so ein Vogel etwas über den Islam erzählt. Problematischer ist, wenn im Laufe der Zeit die Integration nicht funktioniert und Frustration und Radikalisierung entsteht – sowohl innerhalb der europäischen Bevölkerung als auch der arabischen Zuwanderer, und dass sich dann die gegenseitige Ablehnung hochschaukelt. Das ist meine größere Sorge.
Peter Neumann (41) ist einer der weltweit renommiertesten Terrorismusexperten. Der aus Würzburg stammende ehemalige Journalist ist Professor am King’s College in London und leitet ebendort das Internationale Zentrum zum Studium über internationale Gewalt und Radikalisierung. Er hat zahlreiche Bücher vor allem zum Islamismus veröffentlicht; zuletzt: „Die neuen Dschihadisten, ISIS, Europa und die nächste Welle des Terrorismus“.
Kommentare