Experte: Atomkraftwerke lassen sich im Krieg kaum sichern
Die russischen Angriffe auf die AKWs Tschernobyl und Saporischschja vor wenigen Wochen haben die Sorgen über solche Anlagen in Kriegsregionen verstärkt. Der Anspruch, diese Kraftwerke "kriegssicher" zu machen, lasse sich "eher nicht" realisieren, sagte am Donnerstag der Risikoforscher Nikolaus Müllner. Damit es aber zu Beschädigungen mit potenziell katastrophalen Auswirkungen kommt, bräuchte es schon viel Vorsatz - oder eine Verkettung vieler ungünstiger Umstände.
Insgesamt 15 Reaktorblöcke in vier aktiven Anlagen gibt es in der Ukraine. Dazu kommt die vor rund 20 Jahren endgültig vom Netz gegangene Unglücksanlage in Tschernobyl. Diese und jene in Saporischschja wurden bereits am Beginn des Krieges zum Schauplatz von Kämpfen. Letztere - immerhin das größte Kernkraftwerk Europas - war im März von Russland eingenommen worden. Das AKW Saporoschschja habe diese gefährlichen Situationen "vorerst gut überstanden", sagte der Wissenschafter vom Institut für Sicherheits- und Risikowissenschaften der Universität für Bodenkultur (Boku) Wien, das auch für die Online-Veranstaltung am Donnerstag verantwortlich zeichnet. Dass nicht mehr passiert ist, sei aber "auch Glück" gewesen, räumte Müllner ein.
Die Anlage in Saporischschja sei beim Heranrücken der russischen Truppen schon ein Stück weit auf mögliche nahe Kampfhandlungen vorbereitet worden, erklärte Bernhard Traxl vom ABC-Abwehrzentrum des Österreichischen Bundesheeres. Dass es dann am AKW-Gelände zu Kämpfen gekommen ist, war auch der Tatsche geschuldet, dass sich ukrainische Verteidiger dorthin zurückgezogen haben.
Völkerrecht lässt bei AKWs Schlufploch zu
Im Rahmen des Humanitären Völkerrechts wird ein Angriff auf ein Kernkraftwerk im Prinzip zwar untersagt, eine Ausnahme bestehe aber dann, wenn von dort eine Unterstützung von Kriegshandlungen ausgeht. Trotzdem wäre das gelindeste Mittel zur Verfolgung militärischer Ziele einzusetzen und eine Freisetzung radioaktiven Materials tunlichst zu verhindern.
Wie diesen Passus Kriegsparteien im Fall der Fälle jedoch interpretieren, sei offen. Es sollten jedenfalls nicht Truppen nahe eines AKWs zusammengezogen werden, um solche Situationen zu vermeiden, so der Experte. Kommt es dort zu Kämpfen seien Unwissenheit oder Sorglosigkeit die größten Probleme. Dass russische Truppen rund um Tschernobyl etwa Gräben ausgehoben haben, zeuge nicht unbedingt davon, dass es überall viel Problembewusstsein für radioaktive Bedrohungen gibt, meinte Traxl.
Verschanzen sich Truppen in Bedrängnis auf einem AKW-Gelände und ein Angreifer startet den Beschuss, könne auch unbeabsichtigt etwas passieren, was die Anlage von der Stromversorgung abschneidet oder Reaktoren selbst schädigt. Für Truppenverbände sei es mitunter schwer einzuschätzen, wo ein Beschuss am heikelsten ist. "Viele Leute halten die Kühltürme für Reaktorgebäude", betonte Müllner. Die Reaktoren selbst seien oft nicht einfach auszumachen.
Angriff auf Atomkraftwerke in der Ukraine unwahrscheinlich
Damit es zu aktivem Beschuss kommt, müssten nach Einschätzung Traxls aber schon mehrere ungünstige Faktoren zusammenkommen. Bisher gehe man eher nicht davon aus, dass Russland plant, Reaktoren in der Ukraine systematisch zu beschießen. Leider verfüge man aber über verschiedenste Waffensysteme, die in der Lage sind, ihnen direkt großen Schaden zuzufügen. Saporischschja liege immer noch am Rande umkämpfter Gebiete im Südosten der Ukraine. Hier stünden in den kommenden Wochen vermutlich "entscheidende Schlachten" an. Daher brauche es eine laufende Beobachtung der dortigen Situation.
Da in früheren Kriegen zum Glück Kernkraftwerke nicht ins Fadenkreuz gerieten, seien sie auf solche Bedrohungen insgesamt nicht ausgelegt, erklärte Müllner. Berücksichtigt werden vor allem Auswirkungen von Naturereignissen wie Erdbeben. Zuletzt sei man eher von Cyber-Terror mit Unterstützung durch Insider als größte potenzielle Gefährdung für AKWs ausgegangen. Dass man Kraftwerke gegen gezielte, mutwillige militärische Zerstörung schützen kann, bezweifelt der Risikoforscher. Bis zu einem gewissen Grad anpassen ließen sich Sicherheitskonzepte aber auf unbeabsichtigte Zerstörungen in Konflikten. "Natürlich kann man immer etwas verbessern", so Müllner.
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