Selenskij will Vergeltung nach dem Tod von Kriegsgefangenen

Service members of pro-Russian troops drive tanks in the course of Ukraine-Russia conflict near the settlement of Olenivka
Tag 157: Ukrainische Soldaten haben russische Truppen im Süden des Landes angegriffen.

Tag 157 nach dem russischen Angriff auf die Ukraine:

Nach der Tötung Dutzender ukrainischer Kriegsgefangener in einem von Russland kontrollierten Lager hat Präsident Wolodimir Selenskij Vergeltung angekündigt.

Es handle sich um ein vorsätzliches russisches Kriegsverbrechen, sagte der Präsident in einer Videobotschaft. Erneut forderte er die Weltgemeinschaft auf, Russland offiziell als Terrorstaat einzustufen.

Zweifel an russischer Version

Das russische Verteidigungsministerium in Moskau veröffentlichte am Samstag die Namen von 50 getöteten und 73 verletzten Gefangenen. Sie waren in einem Gefängnis in dem Ort Oleniwka inhaftiert gewesen, der bei Donezk auf dem von prorussischen Separatisten kontrollierten Gebiet liegt.

In der Baracke war in der Nacht auf Freitag angeblich eine Rakete eingeschlagen. Russland schiebt den Treffer auf die präzisen Himars-Mehrfachraketenwerfer aus den USA, die die ukrainische Armee einsetzt.

Die Angaben beider Seiten waren nicht sofort verifizierbar; erste Analysen von Bildern und Videos weckten aber Zweifel an der russischen Version. „Das verfügbare optische Material scheint die ukrainische Darstellung eher zu stützen als die russische“, schrieb das US-Institut für Kriegsstudien

Lage im Süden

Die ukrainischen Streitkräfte gehen nach eigenen Angaben im Süden des Landes verstärkt gegen russische Truppen vor. Mit der Zerstörung einer Eisenbahnbrücke über den Fluss Dnipro seien die Besatzungstruppen von der Versorgung auf dem Schienenweg abgeschnitten, teilte das ukrainische Militär am Samstag mit.

In der Region Cherson hätten ukrainische Kräfte am Freitag außerdem mehr als 100 russische Soldaten getötet sowie zwei Munitionslager und sieben Panzer zerstört.

Russen nutzen Pontonbrücken, um Nachschub zu sichern

Die Ukraine hat in den vergangenen Wochen bereits drei Brücken über den Dnipro stark beschädigt. Russische Truppen versuchen laut britischen Informationen nun mit Pontonbrücken und einem Fährensystem, ihren Nachschub zu sichern.

Damit solle ausgeglichen werden, dass nahe gelegene und strategisch wichtige Brücken seit ukrainischen Raketenangriffen unpassierbar seien, teilte das Verteidigungsministerium in London am Samstag unter Berufung auf Geheimdienstinformationen mit.

Wegen der Brückenschäden drohten die russischen Truppen in Cherson, vom Nachschub abgeschnitten zu werden, hatte es am Vortag aus London geheißen.

Nach britischer Einschätzung stehen die von Russland eingesetzten Behörden in den besetzten Gebieten in der Südukraine unter zunehmendem Druck, die Kontrolle über die Region zu festigen. Ihre Aufgabe sei es, im Laufe des Jahres Referenden über den Beitritt zu Russland vorzubereiten, hieß es. So würden die russlandtreuen Verwalter die Bevölkerung wahrscheinlich zwingen, persönliche Daten preiszugeben, um Wählerverzeichnisse zu erstellen.

Zur Lage in der Ostukraine teilte das britische Ministerium mit, dass ukrainische Truppen offensichtlich erfolgreich kleinere Vorstöße russischer Kräfte entlang der Front nahe der Stadt Donezk abgewehrt hätten.

Sieg der Ukraine "immer wahrscheinlicher"

Der ehemalige Chef des US-Auslandsgeheimdiensts CIA David Petraeus hält die Chancen der Ukraine auf einen Sieg im Krieg gegen Russland nach eigenen Angaben für hoch. Es scheine "immer wahrscheinlicher, dass die ukrainischen Streitkräfte einen Großteil, wenn nicht sogar alle Gebiete zurückerobern könnten, die in den letzten Monaten von den russischen Streitkräften eingenommen wurden", sagte Petraeus der Bild-Zeitung.

Voraussetzung für einen ukrainischen Erfolg sei, dass die NATO und westliche Länder weiter Waffen, Munition und Ausrüstung liefern. "Wenn die Nato und andere westliche Staaten weiterhin Ressourcen im derzeitigen Tempo bereitstellen, ... werden die ukrainischen Streitkräfte meines Erachtens in der Lage sein, weitere russische Vorstöße zu stoppen und damit beginnen, die seit dem 24. Februar von den Russen eroberten Gebiete zurückzuerobern", sagte Petraeus.

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Russischer Erfolg für Europas Sicherheit "katastrophal"

Einen militärischen Erfolg Russlands hält er hingegen für "sehr unwahrscheinlich". Zugleich warnte der ehemalige Direktor des US-Auslandsgeheimdiensts vor den Folgen eines möglichen russischen Sieges für Europa: „Ein militärischer Erfolg Russlands in der Ukraine, den ich für sehr unwahrscheinlich halte, wäre für die europäische Sicherheit katastrophal.“

Dies habe das Atlantische Bündnis inzwischen verstanden: „Offen gesagt glaube ich, dass die Staats- und Regierungschefs der Nato - und die Staats- und Regierungschefs der westlichen Nicht-Nato-Staaten - dies erkannt haben und die erforderlichen Maßnahmen ergreifen, um sicherzustellen, dass Russland keinen Erfolg haben kann“, so Petraeus.

Petraeus zählt in den USA zu den prominentesten Vertretern des Militärs. Er war Oberbefehlshaber der US-Truppen im Irak, der NATO-Kräfte in Afghanistan und Chef des US-Zentralkommandos. 2012 trat er als Chef des Auslandsgeheimdiensts CIA zurück, weil er seiner Biografin und Geliebten Paula Broadwell vertrauliche Informationen weitergegeben hatte. Nach einem Schuldeingeständnis wurde er wegen Geheimnisverrats 2014 zu einer zweijährigen Bewährungsstrafe und einer Geldstrafe von 100.000 Dollar (93.700 Euro) verurteilt.

Selenskij verurteilt Tötung ukrainischer Kriegsgefangener

Bei einem Angriff auf ein Lager mit ukrainischen Kriegsgefangenen starben mehr als 50 Menschen. Medien zeigten Bilder von einem ausgebrannten Schlafsaal mit Leichen. Auch vor dem Gebäude, das Einschlagslöcher aufwies, lagen viele mit Planen abgedeckte Körper.

Kiew gab Moskau die Schuld und sprach von „staatlichem Terrorismus“. Russland wiederum warf der Ukraine vor, das Gefängnis mit einem Mehrfachraketenwerfer vom Typ Himars beschossen zu haben.

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„Dies ist eine weitere Bestätigung, dass Russland ein Terrorstaat ist“, sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskij am Freitagabend einer Mitteilung in seinem Telegram-Kanal.

Es handle sich um ein „absichtliches Kriegsverbrechen“, für das es „Vergeltung“ geben werde, sagte er später in seiner abendlichen Videobotschaft. "Es gibt ausreichend Beweise, dass dies ein geplantes Verbrechen war."

„Die Vereinten Nationen (UN) und das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK), die das Leben und die Gesundheit unserer Kriegsgefangenen garantieren sollten, müssen umgehend reagieren“, forderte der Staatschef. Er bekräftigte Forderungen, Russland als „Terrorstaat“ einzustufen. Das Land sei heute die „größte Quelle von Terrorismus“ in der Welt.

Die UN müssten das Verbrechen aufklären, das IKRK müsse sich um die Lage der übrigen Gefangenen kümmern, sagte der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba. 

Der ukrainische Verteidigungsminister Olexij Resnikow verglich die Tat von Oleniwka mit dem Massaker sowjetischer Soldaten in Katyn, die dort im Zweiten Weltkrieg 1940 Tausende polnische Gefangene erschossen und in Massengräbern verscharrt hatten.

Russland sei ein Terrorstaat, der auf dem Schlachtfeld besiegt werden müsse, schrieb der Minister im Kurznachrichtendienst Twitter.

Blinken telefonierte mit Lawrow

Erstmals seit Beginn des russischen Angriffskrieges haben US-Außenminister Antony Blinken und sein Moskauer Kollege Sergej Lawrow Kontakt aufgenommen.

Die beiden Chefdiplomaten telefonierten am Freitag auf Initiative der US-Seite. Blinken habe Lawrow deutlich gesagt, dass die USA russische Pläne, weiteres Territorium der Ukraine zu annektieren, nicht akzeptieren würden. „Die Welt wird Annexionen nicht anerkennen. Wir werden Russland weitere erhebliche Kosten auferlegen, wenn es mit seinen Plänen fortfährt“, sagte Blinken. „Und wie immer sind wir bereit, mit der Ukraine und anderen zusammenzuarbeiten, um alle sinnvollen diplomatischen Bemühungen zur Beendigung des Krieges zu unterstützen - um die Aggression zu beenden“, so Blinken weiter.

Nach Angaben des russischen Außenministeriums informierte Lawrow Blinken über den Gang der „militärischen Spezial-Operation“ in der Ukraine. Der russische Chefdiplomat habe betont, dass alle Ziele in dem Land erreicht würden. Zugleich beklagte er demnach, dass die von den USA und von anderen Nato-Staaten gelieferten Waffen gegen die friedliche Bevölkerung eingesetzt würden. Der Konflikt würde dadurch nur in die Länge gezogen und die Zahl der Opfer erhöht.

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