Europas vergessene Flüchtlinge

Europas vergessene Flüchtlinge
Abseits der Schlagzeilen über die Mittelmeerroute harren auf ägäischen Inseln Tausende aus. KURIER-Augenschein auf Lesbos.

Schon von draußen hat das Camp Moria auf der Insel Lesbos nicht gerade eine einladende Wirkung: Hohe weiße Mauern und Stacheldrahtzaun sollen den unerlaubten Zugang ins Camp unmöglich machen und erinnern noch an die Kaserne, die das Flüchtlingslager ursprünglich war. Eigentlich für bis zu 3100 Menschen ausgebaut, sind das ganze Jahr über bis zu dreimal so viele Flüchtlinge und Migranten in Moria untergebracht. Während die steigende Migration übers Mittelmeer nach Spanien Schlagzeilen macht, kümmern die in Griechenland hängen gebliebenen Flüchtlinge in Europa kaum noch jemanden.

Menschenschlangen

Das Ergebnis ist nicht zu übersehen: Überall lange Menschenschlangen – vor der Asylbehörde, vor der staatlichen Arztpraxis, am Info-Stand. Die Wohncontainer reichen für die wenigsten: Tausende leben in Zelten im offiziellen Lager oder im Olivenhain drumherum – von den Menschen in Moria nur „Dschungel“ genannt. „Der Dschungel, das ist ein Ort für Tiere, nicht für Menschen. Bei Wind fliegen die kleinen Zelte einfach weg, bei Regen leben wir im Matsch“, sagt die 33-jährige Esmat, eine hochschwangere Frau, die in einer der vielen Warteschlangen des Camps ansteht. Sie brauche Windeln für ihre Kinder, sagt die Afghanin. „Meine Kinder sind krank, sie können nachts im Zelt nicht schlafen, weinen ständig. Doch um mit dem Arzt zu sprechen, müssen wir wieder lange warten – vier, fünf Stunden mindestens.“

Traumatisierte Kinder

Europas vergessene Flüchtlinge

Carola Buscemi kennt die Situation in Moria gut. Die Kinderärztin arbeitet seit Februar ehrenamtlich in der provisorischen Kinderklinik der Hilfsorganisation „Ärzte ohne Grenzen“ – gegenüber dem Camp. Ein weißes Containerhäuschen dient als Arztpraxis, in der Buscemi und ihre Kollegen die kleinen Patienten von Moria untersuchen. Trotz ihres Einsatzes: Die Krankheitsfälle würden von Woche zu Woche zunehmen, sagt sie. „Viele Kinder kommen mit Atemwegserkrankungen oder Virusinfektionen zu uns. Da so viele Menschen auf engstem Raum leben, übertragen sich Viren sehr leicht. Viele Kinder haben Magen-Darm-Erkrankungen oder Hautkrankheiten wie die Krätze, wegen der schlimmen hygienischen Bedingungen, denen sie ausgesetzt sind.“ Besonders schockierend sei, dass immer mehr Kinder auch psychische Probleme hätten: „Ich überweise mindestens zehn Kinder in der Woche an unseren Psychologen. Wir haben Kinder, die bettnässen, was ein Indiz für Stress ist, bis hin zu Panikattacken und Selbstmordversuchen – nicht nur bei Jugendlichen, auch bei kleineren Kindern.“

Hoffnungslosigkeit

Der Grund für diese Probleme liege meistens auf der Hand, sagt die 33-jährige Kinderärztin. Die Kinder hätten schon vor ihrer Ankunft auf Lesbos traumatische Erlebnisse, in ihrer Heimat oder auf der Flucht, hatten aber – so wie ihre Eltern – bis zu ihrer Ankunft die Hoffnung, dass sie in Griechenland bessere Lebensverhältnisse vorfinden würden. „Wenn die Familien in Moria ankommen, merken sie: Das ist nicht Europa, die Zustände hier sind oft schlimmer als die, die sie zurückgelassen haben. Und sie merken, dass es schwierig ist, weiterzukommen. Diese Hoffnungslosigkeit der Eltern greifen die kleinen Kinder auf.“ Dabei sei Moria eigentlich als Registrierungszentrum gedacht, nicht als permanente Flüchtlingsunterkunft, sagt Camp-Manager Dimitris Vafeas: „Die ankommenden Menschen sollten sich ursprünglich hier registrieren und nach wenigen Tagen weiterreisen können. Doch seit dem EU-Türkei-Deal

von 2016 ist das verboten. Flüchtlinge und Migranten, die auf den griechischen Inseln ankommen, müssen hierbleiben, bis ihr Asylantrag bearbeitet wurde.“ Und das dauert: Monate, wenn nicht gar Jahre.

Täglich kommen Neue

Deshalb seien alle Camps auf den griechischen Ägäis-Inseln überfüllt: „Nicht nur Lesbos, auch Kos, Chios, Leros, Samos: Alle Inseln, auf denen die Menschen von der Türkei aus ankommen, haben ähnliche Probleme.“ Zumindest verletzliche Gruppen, zum Beispiel Familien mit Kleinkindern, schwangere Frauen und kranke Menschen, versuche die Regierung aufs Festland zu bringen, um die Situation auf den Inseln zu entschärfen. 10.000 Plätze würden für diesen Zweck in Flüchtlingslagern auf dem Festland gerade fertiggemacht. Doch täglich kämen auf den Inseln erneut Geflüchtete an, was die Situation erschwere – allein im September, als rund 900 Geflüchtete aufs Festland gebracht wurden, kamen 1200 auf den Inseln an.

Obwohl das Camp aus allen Nähten platzt: An einen Ausbau sei nicht zu denken, so Dimitris Vafeas. Schließlich könne ein Lager nicht wie ein Luftballon größer und größer werden, sagt er. Irgendwann würde es sich auf die ganze Insel ausbreiten. Langfristig sei die Lösung anderswo zu suchen: In der europäischen Solidarität: „Griechenland kann das nicht alleine stemmen. Alle Länder Europas sollten einen Teil der Verantwortung tragen: Diese Menschen wollen nicht nach Griechenland, sondern nach Europa.“

Rodothea Seralidou

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