Hahn zu Türkei: "Ich bin etwas ratlos"

Interview mit Johannes Hahn am 06.05.2013 in Wien
Der österreichische EU-Kommissar, zuständig für Erweiterungsfragen, im KURIER-Gespräch.

Mit dem äußerst kritischen Türkei-Bericht legt die EU-Kommission Fakten und Argumente auf den Tisch. Es ist von „schwerwiegenden“ Verletzungen der Rechtsstaatlichkeit die Rede, die mögliche Einführung der Todesstrafe wird angesprochen. „Über die politischen Schlussfolgerungen und Konsequenzen haben nun die EU-Regierungen zu entscheiden“, sagt Erweiterungskommissar Johannes Hahn im KURIER-Gespräch.

KURIER: Herr Kommissar, was an der Türkei-Kritik wiegt für Sie am schwersten?

Johannes Hahn: Die Entwicklung hat nicht erst mit dem 15. Juli, dem gescheiterten Militärputsch, begonnen. Wir haben vor einem Jahr schon konstruktive Kritik geübt und Empfehlungen gegeben, die leider ignoriert wurden. Es hat in der Türkei seither keine positive Entwicklung gegeben. Wir verurteilen den Putschversuch und jede terroristische Attacke. Was jedoch die Reaktionen auf den gescheiterten Militärcoup angeht, so gehen sie weit über den Anlassfall hinaus. Ich insistiere daher gegenüber den Türken, uns Antworten zu geben. Es gibt auch Angebote internationaler Organisationen, die Prozesse und Verfahren in der Türkei zu verfolgen, was die grundlegenden Rechte der Beschuldigten stärken würde. Es gibt darauf bis dato keine Antwort der Türkei.

Was sind die konkreten Konsequenzen, die die EU-Kommission aus dem Bericht zieht?

Es ist Aufgabe der Mitgliedsstaaten, daraus Schlussfolgerungen zu ziehen. Im Außenministerrat kommenden Montag wird es dazu sicher eine Debatte geben, die eigentlichen Schlussfolgerungen zum Gesamtbericht werden erst im Dezember gezogen.

Schlagen Sie die Suspendierung der Beitrittsverhandlungen vor?

Nein, das ist nicht unsere Aufgabe. Unsere Aufgabe ist es, die Fakten darzulegen. Auf Basis dieser Fakten muss es jetzt eine politische Interpretation geben. Das liegt, wie gesagt, in der Verantwortung der Mitgliedsstaaten. Es gibt von der Kommission insgesamt eine äußerst kritische Bewertung. Die Bandbreite der Reaktionsmöglichkeiten ist sehr unterschiedlich, wie man an den Mitgliedsländern sieht. Man muss aber auch anerkennen: die Türkei ist und bleibt unser Nachbar. Daher müssen wir uns mit diesem Land auseinandersetzen. In der Frage des Migrationsmanagements waren wir erfolgreich. Vor dem Flüchtlingspakt der EU mit der Türkei, der am 8. April in Kraft getreten ist, hatten wir im Winter 740.000 Flüchtlinge, im Sommer 18.000. Die Zahl der Todesfälle in der Ägäis ging von 360 auf 47 zurück.

Was sind die Bandbreiten möglicher Reaktionen?

Die österreichische Politik hat jetzt Vorschläge vom Sommer wiederholt (sofortiger Stopp der Beitrittsverhandlungen, Anm.). Aber Österreich ist damit offensichtlich immer noch alleine. Die anderen Länder sind der Meinung, man solle die Gespräche fortführen.

Das Verhandlungsmandat mit der Türkei sieht die Suspendierung vor.

Die Fakten, die unser Bericht auf den Tisch legt, geben die Möglichkeit, die ganze Bandbreite der Optionen zu prüfen. Es liegt an den Mitgliedsstaaten. In der Praxis ist es ja so, dass Beitrittsgespräche kaum stattfinden. Der Migrationspakt läuft. Was die Visaliberalisierung angeht, hat die Türkei eine Reihe von Benchmarks erfüllt, einige wichtige, wie die Reform der Anti-Terrorgesetze aber noch nicht. Auch im Rahmen der Zollunion gehen die Dinge weiter.

Mein oberstes Ziel ist es, die Lage zu stabilisieren. Ich bin äußerst kritisch, was das Vorgehen gegenüber den Kurden, von denen 17 Millionen in der Region leben, angeht. Nur die bewaffnete Lösung zu suchen, ist kein Beitrag zur Stabilität. Ich strebe nach einer politischen Lösung. Wir haben angeboten, hier als Vermittler aufzutreten.

Österreich zählt zu den Hardlinern gegenüber der Türkei. Wer ist der Gegenspieler? Gehört Deutschland zu den Erdoğan-Verstehern?

Die Mitgliedsländer vertreten mehrere Vorschläge. Bundeskanzlerin Merkel hat gesagt, sie beteiligt sich nicht an der Sanktionen-Debatte. Der luxemburgische Außenminister Asselborn will Wirtschaftssanktionen. Die Türkei negiert alle Prinzipien und will offensichtlich den Konflikt eskalieren lassen. Gibt es für Sie noch einen Hebel, wo man ansetzen kann?

Ich sage ganz offen, ich bin da auch etwas ratlos. Ich habe lange Zeit die Auffassung vertreten, dass man im Gespräch bleiben muss. Es fällt mir allerdings zusehends schwer zu glauben, dass das auf der anderen Seite ähnlich gesehen wird. Verhandlungen der Kapitel 23 und 24 (Rechtsstaatlichtkeit und Grundrechte) wären ein Lakmus-Test, ob die Türkei diese Grundrechte wirklich meint. Diese Werte sind für uns nicht verhandelbar.

Glaubwürdiger wäre gegenüber der europäischen Öffentlichkeit, konkrete Schritte zu setzen. Lässt sich die EU lässt von den Türken vorführen?

Ich hoffe, dass der Bericht dazu führt, dass EU-Ratspräsident Tusk oder die Kommission den Auftrag bekommen, mit den Türken Tacheles zu reden. Erdoğan erklärt immer wieder, dass die Bevölkerung auf die EU keinen Wert legt. Der Europa-Minister sagt etwas Anderes. Die Kakophonie ist kein europäisches Problem .

Wird am Montag beim Treffen der EU-Außenminister Tacheles geredet?

Ich hätte schon gerne eine Indikation. Die Türkei bewegt sich ganz klar weg von Europa.

Die Türkei droht mit dem Ende des Flüchtlingspaktes sollte die Visa-Liberalisierung nicht bis Dezember kommen. Kommt die Visa-Befreiung?

Diese Drohungen sind kontraproduktiv, und sie entwickeln nur Aversion bei der Bevölkerung. Man kann die Dinge nicht miteinander verquicken, wie das der türkische Außenminister immer wieder macht. Vor drei Jahren wurden die Visa-Kriterien vereinbart. Wir haben zuletzt den Vorbereitungsprozess beschleunigt. Durch den Coup sind die Verhandlungen ins Stocken geraten. Wir können von den Vereinbarungen nicht abrücken und die Kriterien verwässern. Wenn die Türkei nicht imstande ist zu liefern, soll sie bitte uns keinen Vorwurf machen.

Ist ein Kompromiss bei bei den Anti-Terrorgesetzen möglich?

Es hat anfänglich Gespräche gegeben, unsere Experten unterstützen die Türkei in dieser Hinsicht. Doch die Türkei hat uns mitgeteilt, dass sie, so lange der Staatsnotstand in der Türkei besteht, an den Anti-Terrorgesetzen nichts ändern können. Das ist ihre Entscheidung und hat eben als Konsequenz, dass es keine Visaliberalisierung geben wird.

Gehen sie von einer Aufhebung des Flüchtlingsdeals aus. Österreich bereitet sich auf den Worst-case vor.

Ich sehe diese Bedrohungskulisse nicht. Der Anteil syrischer Flüchtlinge lag zuletzt bei zehn bis 15 Prozent. Die Griechen überprüfen jetzt jeden einzelnen Fall. Die Rückführungen sind von der Zahl her bescheiden, aber die Umsetzung funktioniert. Wir stellen erhebliche Mittel zur Verfügung, die die Türkei sonst nicht hätte. Kurzum: wir lassen uns nicht erpressen.

Drei Milliarden Euro sind bis Ende 2017 zugesagt.

Das Gros der Mittel geht über Hilfsorganisationen direkt an die Flüchtlinge. 32 Verträge wurden bisher abgeschlossen. 2,25 Milliarden Euro sind bestimmten Aktivitäten zugeordnet. Mehr als 1,2 Milliarden sind über Verträge festgezurrt, 700 Millionen Euro sind bisher ausbezahlt. Der Mitteleinsatz muss verifizierbar und effektiv sein.

Wie bewerten Sie die Fortschritte in den Balkan-Ländern? Welches Land hat sich der EU deutlich angenähert? Welches Land hat Nachholbedarf?

Es geht um einen Prozess. Die größte Herausforderung für die nahe Zukunft ist die konkrete Umsetzung der Reformen. Alle Länder haben im Rahmen ihrer Möglichkeiten Fortschritte gemacht. Auch Bosnien-Herzegowina und die ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien, wo am 11. Dezember Wahlen nach fast zwei Jahren Krise stattfinden. Serbien hat Kapitel eröffnet und ist mit seinem Regierungschef, Premier Vučić, ein wesentlicher Player in der Region. Albanien hat eine umfangreiche Justizreform durchgeführt. Der Dialog Serbien-Kosovo stockt ein wenig, aber ich bin zuversichtlich, dass wir auch hier Fortschritte erzielen können. In Summe hat jedes Land im Rahmen seiner Möglichkeiten Fortschritte gemacht.

Der FPÖ-Präsidentschaftskandidat Norbert Hofer erwartet, dass Serbien 2020 EU-Mitglied ist. Sehen Sie das auch so?

Es freut mich zu sehen, dass die FPÖ nun offensichtlich einer EU-Erweiterung positiv gegenübersteht. Was Zieldaten angeht, bin ich natürlich froh, wenn die Länder ambitioniert sind, aber auch realistisch. Es geht um die Qualität der Vorbereitung, nicht um die Schnelligkeit.

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