EU-Gipfel: Autos, Atom und eine überworfene Agenda
Er ist sozusagen der Catwalk für Europas Politspitzen: Jener rote Teppich in Brüssels Ratsgebäude, auf dem die Regierungschefinnen und -chefs auf die dicht gedrängte und ungeduldig wartende Menge Journalisten zugehen. Dort, vor dem Wald an Kameras, gilt es, die politische Botschaft des EU-Gipfeltages zu platzieren. „Eine Lösung im Streit über die Verbrennerautos ist auf gutem Weg“, versprach denn gewohnt unaufgeregt der deutsche Kanzler Olaf Scholz.
Und Kanzler Karl Nehammer setzte alsbald nach: Er setze sich für „grüne Verbrenner mit E-Fuels“ ein.
Eher genervt maulte dagegen Luxemburgs Premier Xavier Bettel in die Mikrofone: Das Thema Verbrenner-Aus oder E-Fuels stünde gar nicht auf der Agenda des EU-Gipfels. „Das ist ja kein Wunschkonzert, wenn wir nach Brüssel kommen.“
Alles ist eigentlich immer streng geregelt bei den zweitägigen EU-Gipfeln in Brüssel: Welches Thema wann besprochen wird. Oder wie die auf Punkt und Beistrich genauestens ausgehandelten Schlusserklärungen lauten.Und dann kommt doch immer alles anders.
Krisen, Kriege, Spannungen werfen die Gipfelchoreografie nicht selten über den Haufen. Dieses Mal war es der Streit um den Verbrennermotor. Die Frage, ob neue Benzin- und Dieselmotoren in der EU ab 2035 abgedreht werden, hätte schon Anfang März geklärt sein sollen. Doch dann blies Deutschlands Verkehrsminister Wissing (FDP) zur Blockade – und die Suche nach einer Zukunftslösung geriet seither zur Hängepartie.
Und auch am EU-Gipfel wurde gestern keine Lösung erwartet. Wenn die 27 Staats- und Regierungschefs der EU an ihrem runden Tisch Platz nehmen, können sie reden, schweigen oder streiten – gesetzgeberische Kraft haben sie nicht. Sie geben nur die politische Richtung vor.
Wer was sagt – davon dringt kein Wort nach draußen. Neben Kanzler Karl Nehammer sitzen nicht einmal seine engsten Berater.
Was im Heiligen Gral der EU besprochen wird, darf nur ein Diplomat pro Land mitschreiben. Alle 20 Minuten düst der nach draußen, um schnell die Delegation des Kanzlers zu unterrichten.
Eine Million Granaten
Und da ging es gestern um die Ukraine. Eine Million Granaten will die EU bis Jahresende an die Ukraine liefern. Schnell und problemlos war das abgenickt – ganz anders als die Frage, ob Düngemittelexporte aus Belarus von den EU-Sanktionen ausgenommen werden. „Auf keinen Fall“, legten sich Polen und die baltischen Staaten gegen diese Forderung quer.
Während sich die Diskussionen im obersten Bereich des eiförmigen Ratsgebäudes in hermetischer Abgeschlossenheit in die Länge ziehen, reagieren ein paar Stockwerke weiter unten an die Tausend Journalisten immer panischer. Wer hat was gehört? Welches Gerücht? Kommt ein Diplomat von oben auf ein kurzes Schwätzchen vorbei, stürzt eine Traube von Journalisten los: Gibt es irgendwelche News?
Europas Staats- und Regierungschefs haben inzwischen das Mittagessen mit UN-Chef Antonio Guterres hinter sich, eine Videoschaltung mit dem ukrainischen Präsidenten Selenskij und die auf die Schnelle unlösbare Frage, wie sich Europas Wirtschaft von der allzugroßen Abhängigkeit von China lösen kann.
Macrons Lieblingsthema
Dann Auftritt Emmanuel Macron. Mit Verve argumentiert der französische Präsident für sein Lieblingsthema, die „strategische europäische Autonomie“. Was aus Pariser Sicht nichts anders bedeutet als: Für Energie-Autonomie brauche es Atomkraft – und die sei quasi so treibhausgasfrei wie erneuerbare Energiequellen. Was heißt: Auch Atomkraft müsse mit Milliarden Euro gefördert werden.Das ruft wiederum Österreich auf den Plan. Schon vor dem Gipfel hatte die Regierung in Wien verhindert, dass die Worte „Atomkraft“ und „erneuerbare Energien“ zusammen in die Gipfelschlusserklärung kommen.
Immer später wird der Abend, aber das aus Nehammer Sicht wichtigste Thema kommt erst zum Schluss zur Sprache: Migration. Der österreichische Kanzler und Italiens Premierministerin Meloni sind es, die drängen. „Die Migration ist ein europäisches Herausforderung, die eine europäische Antwort erfordert“, steht auf ihren Wunsch hin in den Schlusserklärungen zu lesen.
Und der Verbrenner-Motor? Der wurde gestern nicht am großen, gemeinsamen Gipfeltisch besprochen. Dass sich der deutsche Kanzler Scholz trotzdem zwischendurch bei Vier-Augen-Gesprächen mit anderen Regierungskollegen so manche Kritik anhören musste, war wohl unvermeidlich. Aber, so bestätigte ein Regierungschef vor Kurzem dem KURIER: „Bei uns gibts keine Schreiereien. Da laufen Diskussionen, auch wenn man anderer Meinung ist, immer ruhig ab.“
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