Erste Risse im Wir-Gefühl: Erdoğan muss um Mehrheit zittern

Symbolfoto.
Der Präsident setzt auf die im Ausland lebenden Türken – die daheim könnten ihm einen Strich durch seine Allmachts-Rechnung machen.

Mustafa Yeneroglu ist verantwortlich für die Koordination der türkischen Referendumswahlen in Europa und weiß, was die beste Reaktion auf den Konflikt mit den Holländern wäre: "Die schönste Antwort ist ein millionenfaches Ja!" erklärt er seinen Landsleuten in Europa. Deren Stimmen könnten entscheidend sein, wenn die Türken am 16. April ihr Referendum über vermehrte Macht für den Präsidenten abhalten.

Vor allem Deutschland, Frankreich und Holland sind für diesen Wahlkampf interessant: Dort leben fast zwei Millionen Stimmberechtigte. Österreich steht mit 107.000 türkischen Wählern auf Platz fünf. Weil die Regierungspartei AKP bei den vergangenen Wahlen in diesen Ländern eine Mehrheit erzielen konnte, sind es wichtige Wahlkreise.

Denn Umfragen zeigen, dass der Ausgang des Referendums noch nicht entschieden ist. Die anfänglich eindeutige Mehrheit für das von Präsident Erdoğan erhoffte Ja nimmt ab. Am vergangenen Freitag wurde eine Umfrage des Instituts AKAM veröffentlicht, der zufolge 57 Prozent für Nein sind. Wie verlässlich diese Umfragen sind, ist schwer zu beurteilen. Es steht die Behauptung im Raum, dass die Fragen manipulativ gestellt werden.

Aber der Kampf um die Wahlurne findet auch sonst mit gezinkten Karten statt: Während die AKP ihren Wahlkampf teilweise aus der Staatskasse finanziert – der Holland-Flug von Außenminister Çavuşoğlu fand mit dem Staatsflugzeug statt –, darf die Opposition sich freuen, wenn sie nicht massiv behindert oder bedroht wird.

Enttäuschung

Dennoch scheint die Ja-Koalition, die ihren Schwung aus dem Wir-Gefühl gezogen hatte, das nach dem verhinderten Putsch vom vergangenen Juli entstanden war, erste Risse zu bekommen. Sie besteht aus Anhängern der AKP und der ultranationalistischen MHP. Die AKP war 2002 mit einer sehr frischen Agenda angetreten und versprach mehr Demokratie, mehr Gleichberechtigung und weniger Personenkult. Hinter vorgehaltener Hand, aber doch hörbar, sehen viele AKP-Anhänger die Gründungsphilosophie durch die geplante Verfassung verraten.

Abgewandt haben sich außerdem die alten Freunde aus der islamistischen Milli-Görüs-Bewegung, aus der auch Erdoğan und viele AKP-Funktionäre stammen. Die dazugehörige Saadet Partei bekennt sich zum Nein. Seither klagt sie über Probleme mit der Stromversorgung auf Wahlkampfveranstaltungen.

Kampagne der Frauen

Die sozialdemokratische Oppositionspartei CHP und die linke HDP stehen ebenfalls hinter dem Nein, aber die stärksten Kampagnen werden von Frauen aus jedem politischen Spektrum organisiert. Am 8. März formulierten auf der Demo zum Weltfrauentag in Istanbul Zehntausende Teilnehmerinnen ein klares "hayir". Die Situation der Frauen hat sich während der AKP-Regierungszeit nicht verbessert. Stattdessen müssen ein Anstieg an Gewalt, weniger Chancengleichheit und ein Abbau von Rechten hingenommen werden. Deshalb führt auch Meral Aksener, ehemalige Spitzenpolitikerin der MHP, eine Nein-Kampagne.

Dass die Nein-Fraktion trotz Einschüchterungsversuchen so stark ist, könnte ein Grund sein, warum die Regierung den Konflikt mit Holland weiter schürt und ihn möglicherweise heraufbeschworen hat. Statt lediglich die in Holland lebenden Türken zu erreichen, haben nun alle Bürger im In- und Ausland die Botschaft gehört.

Noch gibt es keine Umfragen, ob die Eskalation mit Holland und Europa die Wähler beeinflusst hat. Möglicherweise verkehrt sich die Strategie der Aggression auf Dauer sogar ins Gegenteil: Bomben, Putschversuch, politischer Zank und Wirtschaftsflaute zehren an den Menschen und könnte sie dazu bewegen, wenn sie unbeobachtet an der Wahlurne stehen, einfach Nein zu sagen.

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