Ernüchterung in Tunesien: "Von Freiheit wird man nicht satt"
Sidi Bouzid, Dezember 2011: Mohamed Bouazizi, ein junger Straßenhändler, übergießt sich mit Benzin und zündet sich an – verzweifelt über Behördenwillkür, Korruption und Repression. Einen Monat später stirbt er.
Bouazizis Tod löst eine Revolte in Tunesien aus, das seit 23 Jahren unter dem ausbeuterischen Clan von Diktator Ben Ali leidet. Die Folge sind dessen Flucht ins saudische Exil am 14. Jänner – und Aufstände und Umstürze in anderen arabischen Ländern.
Heute gilt Tunesien als Erfolgsmodell: Ein säkularer Staat mit moderner Verfassung, Gleichstellungspolitik und gut ausgebildeten jungen Menschen; mit weitgehender Meinungsfreiheit und tolerantem Islam. Das einzige Land, in dem sich die Demokratie nach dem Arabischen Frühling wirklich durchsetzte.
Es ist aber auch eine Nation, die mit der Aufarbeitung der Diktatur kämpft sowie mit Korruption, steigenden Preisen, Stadt-Land-Gefälle und hoher Arbeitslosigkeit.
"Früher war es besser"
El Agarba, eine Arbeitersiedlung nahe der Industriestadt Sfax: Hühnerhändler Mohammed steht in seinem kleinen Geschäft. Dass die Siedlung mit Hilfe der EU asphaltierte Straßen, Wasseraufbereitung und Straßenlaternen erhielt, habe das Leben hier zwar sicherer gemacht, sagt der 53-Jährige.
Im Großen und Ganzen habe sich seit der Revolution aber zu wenig getan. "Wir hatten große Erwartungen, jetzt kommt die Enttäuschung."
Als Grund nennt Mohammed die Wirtschaftskrise, die sei das einzige wirkliche Problem des Landes. Eine Einschätzung, die man oft hört, wie Radiojournalist und Jus-Professor Anis Morai im Gespräch mit dem KURIER bestätigt. "Wir haben jetzt zwar Freiheit und Menschenrechte, doch davon wird man nicht satt", heiße es dann. Und dass es unter Ben Ali besser gewesen sei.
Zwar gebe es nach den Anfangsjahren der Demokratie, in denen diese ernsthaft gefährdet war, heute eine stabile Regierung. Doch die bestehe aus zwei Parteien, die nur des Machterhaltes wegen zusammen blieben: Die moderat islamistische Ennahda und Nidaa Tounes. Deren Führung besteht zu großen Teilen aus Mitgliedern der Ben-Ali-Administration.
Traumziel Europa
Gut 15 Prozent der arbeitsfähigen Tunesier sind ohne Job, bei den Jungen ist es sogar knapp die Hälfte. Die Regierung sei keine große Hilfe, sagt Salsabil Dkhil. Die 23-Jährige ist Managerin eines Gemeinschaftsbüros, hat in Tunesien und den USA studiert und gibt ihr Wissen nun an andere weiter. Man müsse selbst aktiv werden, sagt sie. Dann könne man Erfolg haben. Unterschiede zwischen Mann und Frau gebe es dabei nicht.
Viele Junge sehen ihre Zukunft in Europa, auch wenn aus Tunesien vergleichsweise wenige Menschen dorthin emigrieren. Nach Angaben aus Italien waren es 2017 jedoch bereits 8000 – so viele, wie seit der Revolution nicht mehr.
Während die Regierung das noch nicht als Problem sieht, antworten Mittelschüler in Sfax, angesprochen auf langfristige Pläne, ohne zu zögern und in fließendem Französisch oder Englisch: "Ins Ausland gehen."
Auch die Hochzeitsdekorateurin Sirin Arous kennt viele, die es wegzieht. Die 23-Jährige hat sich in vier Jahren das Know-how für ihren Betrieb mit heute vier Angestellten selbst angeeignet. Einer ihrer Freunde hat das Land verlassen. "Er bereut es", sagt Arous. Es fehle ihm aber das Geld für die Rückkehr.
Angst vor neuem Terror
Fehlende Perspektiven sind der Hauptgrund auch für ein Problem, das Tunesiens Image schwer beschädigt hat. Mehr als 6000 Menschen schlossen sich der Terrormiliz "Islamischer Staat" an – hauptsächlich junge Männer wie der spätere Berlin-Attentäter Anis Amri.
Die Angst vor Anschlägen durch Heimkehrer steigt. 2015 hatten Angriffe in Tunis und Sousse den Tourismus nahezu zum Erliegen gebracht. Die Branche erholt sich zwar, allerdings kommen heute vor allem Russen, und die geben deutlich weniger Geld aus als die früher dominierenden Mittel- und Westeuropäer.
"Wir sind uns der Bedeutung des Landes bewusst, auch mit Blick auf die Stabilität in Nordafrika, Migration und Terrorismus", sagt Katarina Leinonen von der EU-Vertretung in Tunis. Tunesien sei daher seit 2011 mit 1,3 Mrd. Euro unterstützt worden, etwa in den Bereichen Regierungsführung und Bildung.
Wie sieht nun die Zukunft aus? Journalist Morai atmet einmal tief ein- und aus. "Puh...", seufzt er, lacht und wird ernst. "Im Moment können wir unsere Probleme besser lösen als andere Länder, aber wie lange noch?"
Tunesien ist bekannt für seine Strände, seine Wüsten, die 3000 Jahre alte Kultur oder als Kulisse für Star-Wars-Filme.
Was weniger bekannt ist: Das Land ist einer der größten Olivenöl-Produzenten der Welt, mehr als eine Million der gut elf Mio. Bewohner verdient mit Olivenöl ihr Geld. Fährt man mit dem Auto von Tunis Richtung Süden, reiht sich stundenlang Olivenhain an Olivenhain.
Der Eindruck, den auch die vielen Olivenöl-Flaschen „made in Tunisia“ in den Duty-free-Shops am Flughafen erwecken, täuscht allerdings: Nur drei Prozent des produzierten Öls werden auch im Land abgefüllt und als tunesische Ware verkauft. Der Rest geht ins Ausland. In Japan gilt Olivenöl als Delikatesse, Fläschchen zu 0,2 Litern können hier schon mal 25 Euro kosten.
Als europäisches Produkt deklariert
Der größte Teil aber geht nach Europa. „Drei Euro pro Liter“ bekommen Großhändler laut dem Journalisten Anis Morai vom Radiosender RTCI, die Bauern deutlich weniger. In Europa, sagt der Tunesier zum KURIER, werde das Öl zu einem mehrfachen dieses Preises verkauft, oft deklariert als spanisches oder italienisches Produkt.
Um die dramatischen wirtschaftlichen Folgen der Terroranschläge von 2015 abzumildern, erhöhte die EU 2016 die Importquoten für tunesisches Olivenöl. „Diese konnten wegen schlechter Ernten aber nicht erfüllt werden“, sagt Beatriz Knaster-Sanchez, Mitglied der EU-Vertretung in Tunis. „heuer dürfte es besser werden.“
Kritische Zivilgesellschaft
Seit 2015 verhandeln die EU und Tunesien ein neues Wirtschaftsabkommen (engl. DCFTA oder frz. ALECA), das das erste aus dem Jahr 1995 ersetzen und darin nicht erfasste Branchen wie Tourismus oder Landwirtschaft abdecken soll.
Die Gespräche kommen aber nur langsam voran, was laut Knaster-Sanchez vor allem daran liegt, dass die äußerst kritische tunesische Zivilgesellschaft eng eingebunden sei. Bevor man einen neuen Vertrag abschließe, müsse man evaluieren, was der alte gebracht habe, fasst Morai deren Bedenken zusammen.
Dass Tunesien seine Exporte nach Europa seit Inkrafttreten des alten Vertrags 1998 verdreifacht habe, wie Brüssel betont, lässt Morai so nicht gelten. Tunesiens Industrie könne trotz allem noch nicht mit der EU mithalten und ziehe so in vielen Bereichen den Kürzeren – das dürfe künftig nicht mehr sein. „Es muss eine Win-win-Situation entstehen, keine Win-lose-Situation.“
- Irene Thierjung, Tunis
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