"Erdoğan muss weg": Opposition geeint, um AKP-Regierung zu stürzen

Gut zwei Monate vor den als „historisch“ eingestuften Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in der Türkei sind die Würfel aufseiten der Opposition nun gefallen: Das Bündnis, bestehend aus sechs Parteien, wird mit Kemal Kılıçdaroğlu in die Schlacht ziehen, um Präsident Tayyip Erdoğan nach zwei Jahrzehnten an der Macht eben von jener zu entfernen – mit gar nicht schlechten Chancen.
"Strahlemann oder großer Charismatiker ist der 74-Jährige keiner, eher der kleinste gemeinsame Nenner, eben ein Kompromisskandidat", sagt der österreichische Politologe Cengiz Günay über den Vorsitzenden der sozialdemokratischen CHP. Viele hätten sich lieber den Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoğlu als den "Anti-Erdoğan" gewünscht. Doch der ist mit einem (noch nicht rechtskräftigen) Politikverbot belegt. Auch sein CHP-Parteikollege, der Stadtchef von Ankara, Mansur Yavaş, sei bei vielen hoch im Kurs gestanden.
Kurdische Wähler entscheidend
"Doch den hätten die Kurden nie und nimmer wählen können, war er doch früher bei der nationalistischen MHP (die jetzt mit Erdoğans AKP marschiert)", betont Günay im KURIER-Gespräch. Die kurdische HDP sei zwar nicht Teil der Sechser-Allianz, wolle aber ebenso die Ablöse der aktuellen Verantwortungsträger. "So gesehen werden die Kurden zum Zünglein an der Waage."
Die HDP gilt nach der CHP als größte Oppositionspartei. Sie bildet mit vier anderen (linken) Parteien ein weiteres Oppositionsbündnis. Doch nach derzeitigem Stand schaut es danach aus, als würde diese Allianz keinen eigenen Präsidentschaftskandidaten aufstellen wollen. "Ich gratuliere Herrn Kılıçdaroğlu zur Kandidatur. Wir laden ihn zu einer Besprechung in unsere Parteizentrale ein", verkündete Mithat Sancar, Co-Vorsitzender der HDP. Eine zentrale Forderung der kurdischen Partei, die für Verwerfungen sorgen könnte, bleibt jene nach muttersprachlichem Unterricht auf Kurdisch.
Dennoch sieht Günay, der für das Österreichische Institut für Internationale Politik (oiip) tätig ist, eine Art Wende-Stimmung: „Erstmals besteht eine realistische Chance für einen Machtwechsel. Viele in der Türkei schreiben die Inflation, die hohe Arbeitslosigkeit und die Fehler im Erdbeben-Krisenmanagement Erdoğan zu und wollen bei der Wahl am 14. Mai einen Wechsel.“
"Das ist die große Blackbox"
Würde der Erdoğan eine Niederlage überhaupt eingestehen? "Das ist die große Frage", meint der Experte, „bei einem Verlust der Mehrheit könnte die AKP ein hässliches Gesicht zeigen, sie wendet ja jetzt schon undemokratische Mittel an.“ Entscheidend werde sein, wie sich staatliche Institutionen wie etwa die Nachrichtenagentur oder die Wahlbehörde verhalten, wenn der Urnengang nicht das von Erdoğan erwünschte Ergebnis erbringen sollte. "Das ist die große Blackbox", formuliert Günay.
Dass die sechs Parteien überhaupt zueinander gefunden haben, bezeichnet der Politologe als "Paukenschlag", weil sie so unterschiedlich seien: "Da gibt es Nationalisten, zwei AKP-Abspaltungen, darunter auch eine des ehemaligen Premiers Ahmet Davutoğlu, Erzkonservative und die sozialdemokratische CHP. Was sie eint, ist gleichsam der Slogan, Erdoğan muss weg’. Es ist also ein buntes, aber fragiles Bündnis. Und die Frage ist: Sollte es reüssieren, wie stabil wird es sein?"
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