Erdogan gegen Umfragetief: "Lebe mit dem Koran"

Offiziell darf der Präsident nicht wahlkämpfen – aber er tut’s intensiv mit Betonung seiner Islam-Treue.

Recep Tayyip Erdogan hat noch nie ein Geheimnis aus seiner Frömmigkeit gemacht. Doch jetzt betont der türkische Staatspräsident im Wahlkampf seine Islam-Treue so nachdrücklich, dass er sogar mit einem Koran in der Hand auftritt. Die Opposition verdammt er als religionsfeindlich und ruft die Wähler auf, den gottlosen Gesellen am Wahltag (7. Juni) eine Lektion zu erteilen. Hinter der Religions-Kampagne steckt Verunsicherung: Der Stimmenanteil von Erdogans Regierungspartei AKP sinkt.

"Ich bin mit dem Koran aufgewachsen und lebe mit dem Koran", sagte Erdogan kürzlich bei einer Rede im südostanatolischen Siirt. Mit dem heiligen Buch des Islam in der Hand attackierte er den säkularistischen Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu, der Erdogan vorgeworfen hatte, den Glauben politisch auszubeuten. Bei ihm selbst spiele der Koran eine große Rolle, sagte Erdogan – bei Kilicdaroglu sei das wohl anders.

"Das wahre Mekka"

Bei mehreren Auftritten im Kurdengebiet griff Erdogan zudem die Kurdenpartei HDP und deren Vorsitzenden Selahattin Demirtas scharf an. Auch dabei setzte der Präsident auf religiöse Töne, denn viele Kurden sind islamisch-konservativ. Demirtas hatte den Istanbuler Taksim-Platz, den Fokus regierungsfeindlicher Demonstrationen am Maifeiertag und der Gezi-Proteste von 2013, als Mekka der Opposition bezeichnet. Erdogan konterte, die Wähler wüssten sehr wohl, wo das wahre Mekka liege. Die Wähler sollten die HDP und Kilicdaroglus Partei CHP am Wahltag abstrafen, forderte Erdogan.

Der Präsident wolle mit der Betonung seiner Islam-Treue etwas gegen die sinkenden Umfragewerte der AKP unternehmen, schrieb die Journalistin Asli Aydintasbas auf Twitter. Erdogan ziele auf die Mehrheit der islamisch-konservativen Wähler in Anatolien.

Die AKP wird am 7. Juni laut den Voraussagen bei etwa 40 Prozent landen. Damit bliebe sie stärkste Partei, doch die parlamentarischen Mehrheiten zur Einführung des von Erdogan angestrebten Präsidialsystems liegen für sie derzeit in weiter Ferne. Besondere Bedeutung kommt Demirtas’ Kurdenpartei HDP zu: Schafft sie es, die Zehn-Prozent-Hürde für den Parlamentseinzug zu überwinden, schrumpft der Sitzanteil der AKP in der neuen Volksvertretung noch weiter.

Offiziell muss sich Erdogan als Staatsoberhaupt aus der Parteipolitik und dem Wahlkampf heraushalten. Doch der 61-Jährige zieht unbekümmert über die Marktplätze und fungiert fast jeden Auftritt zu einer Wahlkampfveranstaltung um.

Unklar ist bisher, ob Erdogan mit seinen Koran-Reden und seiner Verachtung für die Regeln seines Amtes der AKP tatsächlich nützt. Der nominelle AKP-Chef und Ministerpräsident Ahmet Davutoglu soll über das Engagement Erdogans alles andere als erfreut sein. Einige Beobachter sehen auch bei einfachen Wählern einen gewissen Unmut darüber, dass Erdogan das Präsidentenamt so ungeniert parteipolitisch einsetzt.

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