Das käme einer Kündigung des Deals aus 2016 gleich, in dem sich Ankara unter anderem verpflichtet hat, zu verhindern, dass Migranten weiter nach Griechenland oder Richtung Balkan ziehen. Begründet hat der Präsident seinen Vorstoß mit der Tatsache, dass die Türkei bereits 3,6 Millionen Flüchtlinge, vor allem Syrer, beherberge und ein weiterer Ansturm aus der umkämpften nordsyrischen Provinz Idlib drohe.
Von Europa forderte Erdoğan logistische und finanzielle Unterstützung bei der angepeilten Errichtung einer türkischen „Sicherheitszone“ im Nordwesten Syriens, in der dann bis zu einer Million Flüchtlinge, die sich derzeit in der Türkei befinden, angesiedelt werden sollen. Dieses Ansinnen kann durchaus als „Erpressungsversuch“ interpretiert werden, wie es am Freitag etwa Altbundeskanzler und ÖVP-Chef Sebastian Kurz machte. Zudem würde Europa indirekt in den Syrien-Konflikt hineingezogen werden.
Beispiel 2, Atomwaffen
Jüngst kündigte der Präsident eine nukleare Aufrüstung an: „Es ist inakzeptabel, dass manche Länder über Atomraketen verfügen und die Türkei nicht.“ Er habe sowohl US-Staatschef Donald Trump als auch dessen Vorgänger Barack Obama um intelligente A-Bomben gebeten – ohne Erfolg. Nun werde man sie eben selber bauen. In absehbarer Zeit kann dies nicht geschehen, da das Land über keine eigene Atomtechnologie verfügt. Allerdings wird mit russischer Hilfe derzeit gerade das erste Atomkraftwerk der Türkei erbaut. Das atomare Waffen-Know-how könnte irgendwann Pakistan liefern.
Bis es so weit ist, dürften aber noch viele, viele Jahre vergehen. Dennoch könnte das Statement, mit dem Erdoğan seine Groß- und Regionalmacht-Fantasien bekräftigte, ein nukleares Wettrüsten im Mittleren Osten auslösen: Israel hat die Atombombe bereits; der Iran liebäugelt ebenfalls immer wieder damit; dessen Erzrivale Saudi-Arabien hat zwar derzeit offiziell keine Pläne dazu, würde im Fall der Fälle aber nachziehen und bereitet jetzt schon sicherheitshalber die Errichtung seines ersten Atomkraftwerks vor.
Beispiel 3, Russische Waffentechnik
Dass Ankara das russische Raketenabwehrsystem S-400 geordert hat, empört vor allem die USA, mit denen die Türkei schon länger im Clinch liegt. In Washington, aber auch in der NATO-Zentrale in Brüssel befürchtet man – laut Experten zu Recht –, dass durch die notwendige Verknüpfung mit Geräten des westlichen Verteidigungsbündnisses militärische Daten ausgespäht werden könnten. Als Reaktion auf die Einkaufspolitik Erdoğans und dessen Annäherung an Moskau warfen die USA die Türkei aus dem gemeinsamen Programm für das Kampfflugzeug F-35.
Den „Sultan“ kennend, weiß man aber, dass meist nicht so heiß gegessen wird, wie er gerne kocht. Und man weiß auch, dass er mit solchen Ausritten oft von innenpolitischen Problemen ablenkt: Die Wirtschaft schwächelt weiter, die Istanbul-Wahlen hat er heuer gleich zwei Mal verloren, innerhalb seiner AK-Partei brodelt es – Unzufriedene erwägen eine Abspaltung, und das wäre dann vermutlich das Ende der Ära Erdoğan.
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