Erdoğan auch ohne Sondervollmacht fast allmächtig
Der vor zwei Jahren in der Türkei verhängte Ausnahmezustand ist beendet. Er wurde nicht verlängert und lief deshalb in der Nacht auf Donnerstag (00.00 Uhr MESZ) aus.
Trotz des Endes des Ausnahmezustandes kann Staatspräsident Recep Tayyip Erdoga weiterhin fast schrankenlos regieren. Als die türkische Regierung nach dem Putschversuch 2016 den Ausnahmezustand verhängte, begann eine neue Ära: Grundrechte wurden eingeschränkt, mehrere Wellen von Massenentlassungen und -verhaftungen rollten über das Land. Das Ende des Ausnahmezustandes in der Nacht auf heute wird am Status quo aber kaum etwas verändern. Denn Präsident Recep Tayyip Erdoğan sorgt dafür, dass wesentliche Regelungen in die Terrorgesetzgebung übernommen werden. Auf diese Weise solle der Ausnahmezustand gleichsam legalisiert werden, klagt die Opposition. Viel Gehör findet sie jedoch nicht damit.
Erdoğan baut die Republik weiter um. Wie das funktioniert, zeigen die Karrieren von Abdurrahman Orkun Dag und Hulusi Pur. Die Richter am Istanbuler Schwurgericht haben sich einen Namen als gnadenlose Gegner von beschuldigten Journalisten und Intellektuellen gemacht. Dag verurteilte im April mehr als ein Dutzend Mitarbeiter der Oppositionszeitung Cumhuriyet zu mehrjährigen Haftstrafen, Pur leitete 2013 den Prozess gegen den regierungskritischen Pianisten Fazil Say, in dem dieser wegen Volksverhetzung zu einer zehnmonatigen Bewährungsstrafe verurteilt wurde. Jüngst wurden die beiden Juristen befördert und zu Richtern am Berufungsgerichtshof in Ankara ernannt.
Mogherini schickt gleichzeitig Warnung
Die EU hat am Donnerstag das Ende des Ausnahmezustands in der Türkei begrüßt. Neue Gesetzesvorschläge, die den Behörden außerordentliche Machtbefugnisse geben würden und das Festhalten an verschiedenen restriktiven Elementen aus dem Ausnahmezustand, würden jedoch alle positiven Effekte der Beendigung des Ausnahmezustands dämpfen, betonte eine Sprecherin der EU-Außenbeauftragten Federica Mogherini
Massenentlassungen
Das nach der Wahl im Juni eingeführte Präsidialsystem gibt Erdoğan fast uneingeschränkte Macht über den Staatsapparat und die Politik der Türkei. Während des Ausnahmezustands wurden rund 160.000 Beamte, Soldaten und Polizisten entlassen, denen aus Sicht der Regierung nicht zu trauen war. Auch nach der offiziellen Rückkehr zur Normalität sollen Massenentlassungen möglich bleiben: Ein Gesetzespaket, über das möglicherweise schon kommende Woche im Parlament abgestimmt wird, schreibt das Recht der Behörden zur Entfernung von Beamten aus dem Staatsdienst wegen Terrorverdachts fest. Der Terror-Begriff wird in der Türkei sehr weit gefasst; häufig genügt bereits der Vorwurf einer Mitgliedschaft in der Bewegung des Predigers und Erdoğan-Intimfeindes Fethullah Gülen.
Die vielen Entlassungen haben in der Bürokratie teilweise große Löcher hinterlassen. Um sie zu füllen, senkt Erdoğan per Präsidialdekret die Zugangsvoraussetzungen zu bestimmten Posten. Manchmal schießt das Präsidialamt allerdings weit über das Ziel hinaus. So hatte Erdoğan unter anderem verfügt, dass man in der Türkei nicht mehr Professor sein muss, um Rektor einer Universität zu werden – diese Anordnung wurde inzwischen wieder zurückgenommen. Bei einem anderen Präsidialdekret, das die Regel abschaffte, dass jeder Richter an einem Verwaltungsgericht auch Jus studiert haben muss, steht die Korrektur noch aus.
Mit der Konzentration auf Erdoğan im neuen Präsidialsystem verlieren die Fachministerien an Einfluss. Im diplomatischen Dienst etwa gilt ab sofort die Vorschrift, dass jeder Staatsbeamte – gleich aus welcher Behörde – mit mindestens fünf Jahren Berufserfahrung zum Botschafter ernannt werden kann. Das Außenministerium sei fortan nur noch Ausführungsbehörde und nicht mehr für die Ausarbeitung außenpolitischer Positionen verantwortlich, berichtete Cumhuriyet.
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