Erdoğan und die Flüchtlingskarte

Die Türkei muss laut Pakt Flüchtlinge zurücknehmen
Mehr Migranten in Griechenland, aber Gerüchte über Ende des Flüchtlingsdeals sind falsch.

"Wir haben unseren Teil des Flüchtlingsabkommens mit der Europäischen Union erfüllt", zitierte die türkische Tageszeitung Sabah den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan am vergangenen Dienstag. Im Gegensatz dazu registrierte die UN-Flüchtlingsorganisation UNHCR allerdings im Monat August, dass wieder mehr Flüchtlinge von der Türkei aus über die Ägäis auf den Griechischen Inseln angekommen sind.

Was dieser Tage auch zu Falschmeldungen führte, die Türkei habe die Schleusen für Flüchtlinge geöffnet – was nicht stimmt: Erst Mittwoch und Donnerstag fischte die türkische Küstenwache wieder rund 100 Flüchtlinge auf dem Weg nach Griechenland aus der Ägäis.

Was stimmt: Der türkische Präsident merkte bei seiner Stellungnahme auch an, dass die EU bei ihrem Teil des Deals säumig sei: "Noch immer hat die EU ihr Versprechen hinsichtlich der Visa-Freiheit nicht erfüllt." Und er beschwerte sich auch darüber, dass Zahlungen ausstünden, die für die Erfüllung des Rücknahme-Abkommens zugesichert waren. (Das im März 2016 zwischen EU und Türkei vereinbarte Abkommen sieht vor, dass Ankara alle auf den griechischen Inseln eintreffenden Flüchtlinge zurücknimmt. Für jeden so abgeschobenen Syrer übernimmt die EU auf legalem Weg einen syrischen Flüchtling aus der Türkei. Damit verbunden sind Milliardenzahlungen an die Türkei. Anm.).

Dem Internetauftritt der Türkischen Küstenwache ist zu entnehmen, dass zuletzt tatsächlich weniger irreguläre Migranten aus der Ägäis aufgegriffen worden sind als beispielsweise im Juni, als mit 1888 Personen die meisten Seerettungen von Flüchtlingen durch türkische Behörden in diesem Jahr erfolgten. Im Juli waren es nur noch 1743, im August bisher 1615. Dabei finden aufgrund der Wetterverhältnisse im Sommer statistisch mehr Fluchtversuche über das Meer statt als in den regnerischen und stürmischen Wintermonaten.

Mauer, Stacheldraht

Die Türkei hat eine 911 Kilometer lange Landgrenze zum Kriegsland Syrien. Ebenfalls im Zuge des EU-Deals wurde im vergangenen Jahr der Grenzstreifen auf einer Länge von 700 Kilometern mit einer Mauer und Stacheldraht dicht gemacht. Seither ist die Zahl der Neuankömmlinge aus dem Osten relativ stabil. In der Türkei leben derzeit rund 3,4 Millionen Syrer, seit die Mauer steht, bleibt ihre Zahl weitestgehend konstant.

Präsident Erdoğan weiß allerdings genau, wie hochbrisant das Thema Flüchtlinge in Europa und vor allem in der Bundesrepublik Deutschland ist. Im September wird dort gewählt, und bereits jetzt verzeichnen nicht nur die meisten Parteien einen Rechtsruck, es könnte mit der AfD auch erstmals eine rechtsextreme Partei, die mit der Angst vor Zuwanderung auf Stimmenfang geht, den Einzug ins Parlament schaffen.

Erdoğan weiß also, dass er über seine Küstenwache Druck auf Deutschland, aber auch auf die übrigen Länder der EU ausüben kann: Wenn weniger patrouilliert wird und weniger Flüchtlinge aufgegriffen werden und so mehr nach EU-Europa durchkommen, bringt das die dortigen Regierungen in die Bredouille. Bei seinen eigenen Wählern hingegen kommt gut an, wenn er seine Machtposition ausspielt und sich als starker Mann vom Bosporus generiert. Drohungen an die EU, den Flüchtlingspakt gänzlich aufzukündigen, hat es ja schon öfter gegeben.

Innenpolitisch ist der Flüchtlingsstrom aus Syrien in der Türkei kein großes Thema. In den türkischen Medien spiegelt sich die Flüchtlingsfrage, abgesehen von Schlagzeilen über Einzelereignisse, kaum wider. Eine öffentliche Diskussion zum Thema findet abseits der EU-Thematik kaum statt, auch wenn sie bitter nötig wäre.

Daher kann Erdoğan die Flüchtlingskarte als Druckmittel gegen Europa jederzeit spielen, einmal mehr, einmal weniger, ohne große innenpolitische Konsequenzen befürchten zu müssen.

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