Ein Riss geht durch das geeinte Volk

Im deutschen Dresden zeigt sich der Konflikt zwischen Ost und West – und zwischen unten und oben.

"Es ist so traurig", sagt Ursula Jacobi. Man hört kaum, was die elegant gekleidete Dame aus Aachen sagt, so laut wird nebenan gepfiffen; der Pulk an Menschen, der vor der Dresdner Semperoper lautstark gegen die hohe Politik Stimmung macht, die in der Oper gerade den 26. Jahrestag der Deutschen Einheit zelebriert, ist heute übermächtig, zumindest akustisch. "Merkel muss weg", tönt es in Dauerschleife, mitunter hört man auch noch derbere Sprüche.

"Frau Merkel ist doch eine tolle Person", sagt eine ältere Dame aus Berlin, sie schüttelt den Kopf. Dieses Kopfschütteln sieht man am Montag in der ganzen Stadt. Laute Stimmen gegen die Krakeeler, die Kanzlerin Merkel und Bundespräsident Gauck auf Schritt und Tritt mit ihren Trillerpfeifen begleiten, hört man aber kaum. In Dresden hält man sich zurück; und das, obwohl gerade hier 1989 der Funke zur Einheit besonders hell geleuchtet hat. Dass die "Volksverräter"-Rufer von heute dort marschieren, wo 1989 der Satz "Wir sind das Volk" entstand, dass sie dort gegen Angela Merkel und Joachim Gauck ihre Reden schwingen, wo Helmut Kohl vor dem Mauerfall mit seinem fulminanten Auftritt vor der Frauenkirche den Grundstein zur Einheit gelegt hat, verwundert viele – nur die Dresdner selbst nicht.

"Die da oben"

"Bei Pegida waren am Anfang teils dieselben Leute dabei, die 1989 mit mir auf die Straße gingen" sagt Frank Richter, der Leiter der Landeszentrale für politische Bildung. Der 53-Jährige kennt sie, die Leute, die damals dabei waren, schließlich war er der Gründer der "Gruppe der 20", die 1989 die Verhandlungen mit der SED geführt hat. Er war einer der Wegbereiter der Einheit, jener Wagemutigen, die für mehr Freiheit für alle ihre eigene Freiheit riskiert haben.

Verständnis für die Demonstranten von heute hat er deshalb keines, sagt er; die findet er "unerträglich". Aber für ihn offenbart Pegida etwas, das schon länger etwas in der Gesellschaft vor sich hin köchelt. "Man hat wieder das Gefühl, dass die da oben machen, was sie wollen", sagt er; das habe auch mit dem noch immer existierenden Ost-West-Gefälle zu tun. "Transformationsfrust" nennt er das; es herrsche im Osten nach wie vor das Gefühl, "Deutscher zweiter Klasse" zu sein. Sichtbar sei das an den Taktgebern in Wirtschaft, Kultur, Politik: "70 Prozent der Funktionselite sind aus dem Westen."

Der Riss, der sich aus Ost und West und Oben und Unten speist, geht in Dresden oft durch ganze Familien, und selbst jene, die selbst Leid durch die DDR erfahren haben, sind bei Pegida dabei. "Ich war politisch inhaftiert", sagt ein Herr mittleren Alters am Bierstand vor der Semperoper; er sei ein ehemaliger CDU-Wähler, fügt er freundlich dazu, "aber jetzt bei Pegida". Wieso? "Man darf seine Meinung nicht mehr äußern. Das, was jetzt passiert, ist das Gleiche wie 1989, nur subtiler." Er sei Unternehmer, er wisse, dass man als Pegida-Anhänger Probleme mit den Behörden bekomme, sagt er. Dazu fehle es ihm an etwas, was er "deutsche Leitkultur" nennt. Da stimmt sein Nachbar lautstark zu: "Wir sind für Norbert Hofer!", ruft er.

Später, bei der Pegida-Kundgebung mit mehreren Tausend Menschen, werden österreichische Fahnen zu sehen sein. Das ist es auch, was die Politik verunsichert. Nicht nur Neonazis, "Abgehängte" und "Frustrierte" marschieren da mit, es sind Junge, Erfolgreiche dabei, und die sind über die Grenzen hinaus vernetzt. Wie jener 25-Jährige mit dem kantigen Haarschnitt, der fragt, warum er keinen Kindergartenplatz für seine Tochter bekommt, aber Geld für Asylheime da sei; und der das mit den markigen Worten "Ich will mich nicht wie ein Fremder im eigenen Land fühlen" zusammenfasst.

Fragt man den jungen Mann , ob das nicht etwas verkürzt gedacht ist, lächelt er und meint: "Zuspitzungen braucht es, sonst kommt man nie zu was." Dass er sich für die AfD engagiert, lässt Frau Jacobi nebenan mit dem Kopf schütteln. Ihre Worte gehen im "Volksverräter"-Gebrüll unter.

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