Ehemaliger EU-Kommissar: "Der Fischler ist kein Tiroler mehr"
1995 trat Österreich der EU bei und der 48-jährige Tiroler Franz Fischler wagte den Sprung in die EU-Kommission nach Brüssel. Die erste Herausforderung für den vormaligen Landwirtschaftsminister? Englisch lernen.
Wie tickte damals Österreich, was bereitete dem Agrarkommissar schlaflose Nächte? Wer war sein unangenehmster Gegenspieler? Und wie steht der Großvater von vier Enkeltöchtern (und bald eines fünften Enkerls) zu Fridays for Future? Franz Fischler (73) in einem sehr persönlichen Interview.
KURIER: Als Sie 1995 als EU-Agrarkommissar nach Brüssel kamen, war das ein Kulturschock für Sie?
Franz Fischler: Das würde ich so nicht formulieren. Was mir gleich in Brüssel gefallen hat, war das belgische Essen und die vielen guten Restaurants. Ich hatte immer eine gute Unterkunft in der Nähe des Büros, damit ich zu Fuß gehen konnte.
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen wohnt ja im Berlaymont-Gebäude, dem Sitz der Kommission...
Das halte ich für völlig verkehrt. Sie müssen sich vorstellen, was das kostet! Das ganze Berlaymont muss nun Tag und Nacht bewacht werden, nur weil Madame von der Leyen da drin wohnt.
Wie war damals für Sie die Umstellung des Arbeitens?
Die war fundamental. Die Qualität der Arbeitsweise der Kommission war einfach ein Erlebnis im Vergleich zur Arbeit in den Ministerien zuvor. Das war Hundertundeins. Da hieß es nicht: Des woll’ma oder des brauch’ma, wie es früher in Österreich üblich war (lacht). Es war normal, viel vorzubereiten. Ein Briefing bestand aus einer Analyse mit mehreren Optionen, Für und Wider.
Was mir sehr geholfen hat, war die Zusammensetzung des Kabinetts. Mir ist es gelungen, den besonders erfahrenen EU-Beamten, der zuvor im Kabinett des EU-Präsidenten war, als Kabinettschef zu gewinnen: Corrado Pirzio-Birolli. Er war für mich als Newcomer unglaublich hilfreich. Er hat mir vorgeschlagen, ein internationales Kabinett zu bilden. Das hat sich gut bewährt.
Ihre Arbeitssprache war Englisch?
Ja. Da war ich damals noch in den Anfängen. Durch die Praxis hab ich aber schnell dazu gelernt.
Als EU-Kommissar soll man ja nicht als Österreicher denken, sondern als Europäer...
Das war am Anfang eine Riesenumstellung – nicht so sehr für mich, aber für meine Umwelt. Jeder Kommissar muss einen Eid ablegen, dass er ausschließlich der europäischen Sache verpflichtet ist. Aber in Österreich hat kaum jemand verstanden, was das ist, so ein Kommissar. Viele glaubten, der Kommissar ist so eine Art Oberbotschafter von Österreich, wo man hingeht, seine Anliegen vorbringt und der macht das dann. So eine Art Interventionsstelle.
Wie muss man sich das vorstellen?
Als die österreichischen Touristiker ein großes Anliegen gleich nach unserem EU-Beitritt hatten, weil eine österreichische Regelung nicht EU-konform war, ging einer der obersten Funktionäre, ein Tiroler, zum damaligen Vizekanzler Erhard Busek und hat ihm vom Problem erzählt. Und der hat gesagt: Na, dann geht’s halt zum Fischler, der ist noch dazu eh ein Tiroler. Dann kamen sie zu mir nach Brüssel, und ich hab ihnen erklärt, dass die Regelung nicht EU-konform ist, da fährt die Eisenbahn drüber. Sie waren völlig enttäuscht.
Später hat mich Busek angerufen und gesagt: Stell dir vor, jetzt haben sich die bei mir beschwert und haben gesagt: Der Fischler, der ist ja kein Tiroler mehr, der ist jetzt ein Europäer! (lacht)
Welche Probleme gab es noch in Österreich?
Viele Leute haben sich schwer getan mit den einfachen Grundbegriffen, nach denen die EU funktioniert. Da hatte ich die Idee, in Wien gut ein Jahr nach unserem Beitritt – in Absprache mit dem damaligen Parlamentspräsidenten Heinz Fischer – ein Verbindungsbüro mit zwei MitarbeiterInnen einzurichten, die Anliegen der Leute sammeln sollten. Mein Ziel war, dass sie dann an die richtige Adresse kommen.
Und heute?
Bis heute verstehen viele nicht, wie die Kommission funktioniert. Dort existiert nicht die Ministerkompetenz, sondern es ist ein Kollegialorgan: Alles muss gemeinsam beschlossen werden. Ein starker Kommissar ist man nicht, weil man das meiste Budget – wie ich damals – verwaltet.
Ein starker Kommissar wird man, wenn man sich in andere Aufgabenbereiche einarbeitet und sich dort auch auskennt und in der Kommission auch bei anderen Themengebieten mitreden kann. Wenn man sich den Ruf erarbeitet, dass es ganz gut ist, wenn man mit dem Kommissar vorher redet, bevor etwas in die Kommissionssitzung kommt, weil es sonst vielleicht Schwierigkeiten geben könnte, weil der eine andere Meinung hat – dann ist man ein starker Kommissar. Und das war so bei mir. (lacht)
Warum hat der Neuling Österreich gleich das so wichtige Agrarressort zugesprochen bekommen?
Die erste Kommission, in der ich Mitglied war, war die von Jacques Santer. Damit der Luxemburger Präsident werden konnte, musste sein Landsmann René Steichen als Agrarkommissar gehen. Santer übernahm dessen Kabinettschef, der mich von den Beitrittsverhandlungen gekannt und geschätzt hat. Auf der Suche nach einem neuen Agrarkommissar hat Santer dann den Österreichern gesagt, er wäre bereit, den Newcomern das Agrar-Portfolio zu übertragen, aber unter der Bedingung, dass sie mich als Kommissar schicken.
Wer war Ihr unangenehmster Gegenspieler?
Das waren damals schon die Brasilianer, mit denen wir zu der Zeit WTO- und Mercosur-Verhandlungen geführt haben. Da gab es insbesondere einen Minister, der hat immer zu mir gesagt: Wir sollen doch in Europa endlich aufhören, Landwirtschaft zu betreiben, sondern ihm einen Brief schreiben, wie viel wir wovon brauchen, und er schickt uns das. Dafür kaufen dann die Brasilianer den Europäern mehr Mercedes und BMWs ab.
Der war äußerst unangenehm, weil er ständig seine Größe ausgespielt hat. Mit solchen Leuten ist es schwierig zu verhandeln.
Gab es Entscheidungen, die Ihnen schlaflose Nächte bereitet haben?
Die hat es gegeben. Die ersten schlaflosen Nächte hatte ich 1996 im Zusammenhang mit BSE (Rinderwahn). Damals ist klar geworden, dass die Position der Briten, die sie jahrelang vertreten haben – nämlich, dass BSE nicht auf den Menschen übertragbar sei –, nicht gestimmt hat. Und dann war Feuer am Dach. Am nächsten Tag titelte die britische Zeitung Sun: „Hunderttausend Briten tragen den Todeskeim bereits in sich.“ Sie müssen sich vorstellen, was das ausgelöst hat.
Was mir schlaflose Nächte bereitet hat, war vor allem das Problem, dass wir keine wissenschaftlichen Erkenntnisse hatten, wie wir diese Krankheit, diese Katastrophe bekämpfen können. Die haben schlicht nicht existiert, weil die Briten Studien in der Richtung gezielt unterdrückt haben. Natürlich hat die Öffentlichkeit Entscheidungen verlangt und einen Plan. Aber woher nimmt man den, wenn die dafür notwendigen Voraussetzungen nicht existieren?
Was macht man dann?
Es bleibt einem nur der Hausverstand. Dem haben wir Folge geleistet und sehr rasch ein Maßnahmenpaket entwickelt. Da hatten wir offensichtlich ein gutes Gespür: Wir mussten keine einzige Maßnahme zurücknehmen. Es sind dann jede Menge Studien entstanden, die zeigten, dass wir alles richtig gemacht hatten.
Die große Wende ist gekommen, als es gelungen ist, einen Test zu entwickeln, mit dem man BSE am lebenden Tier nachweisen konnte. Dann war es relativ einfach, kranke Tiere auszusortieren.
Wer war 1996 Regierungschef in Großbritannien?
Das war der (konservative) Premier John Major. Das kam noch verschärfend dazu: In Großbritannien war gerade Wahlkampf und Major hat mir dann die Schuld gegeben, dass er die Wahl verloren hat.
Hatte er recht?
Nein. Hat ihm auch keiner geglaubt. Mit seinem Nachfolger Tony Blair (der Sozialdemokrat gewann die Wahlen) hab ich mich relativ gut verstanden. Bei den Reformen, die ich ja zehn Jahre lang gemacht habe, hat er mich sehr, sehr stark unterstützt.
Hätten Sie je erwartet, dass die Briten wieder austreten?
Nein. Vieles von dem, was es heute gibt, war damals unvorstellbar. Eines davon ist der Brexit. Noch weniger hätte man gedacht, dass ein Risiko besteht, dass die EU wieder zerfallen könnte. Wenn ich das Ende der 90er-Jahre gesagt hätte, hätten die Leute kommentiert, der ist nicht mehr ganz bei sich selber.
Und der Klimawandel?
Dieses Thema wurde zu meiner Zeit politisch noch überhaupt nicht diskutiert. Alle Überlegungen und Pläne waren darauf aufgebaut, dass es jedes Jahr ein Wirtschaftswachstum gibt. Deswegen war dann die EU einige Jahre ziemlich hilflos, wie 2008 die Krise gekommen ist. Da haben alle Hypothesen, die man vorher verfolgt hat, nicht mehr gestimmt.
Wie groß schätzen Sie das Zerfallsrisiko der EU ein?
Im Moment nicht sehr groß. Längerfristig ist es zu einem gewissen Grad eine offene Frage, vor allem aus einem Grund: Früher, wenn es Streit gegeben hat – und es hat oft Streit in der Union gegeben –, dann war es in der Regel ein Streit um die bessere europäische Lösung. Heute sind die Streitigkeiten mit (Ungarns Premier Viktor) Orbán oder den Polen oder mit anderen von einer ganz anderen Art.
Da geht es in der Regel darum, dass diese Staaten immer wieder versuchen, gewissermaßen die roten Linien der Gemeinschaft zu überschreiten. Und erst wenn sie dann – wie bei der Behinderung der Justiz oder der freien Meinung – beim Europäischen Gerichtshof geklagt werden, „zipfeln“ sie zurück. Da herrscht eine Art Zentrifugalkraft, wo ständig politisch ausgemessen wird, wo der tolerable Rand, die rote Linie ist.
Was kommt mit dem Brexit auf uns zu?
Abgesehen von den Briten müssen auch die verbleibenden Mitgliedsstaaten die Konsequenzen erst verdauen. Beginnend mit den finanziellen Konsequenzen, weil die britischen Nettozahlerleistungen wegfallen. Die Frage ist auch, wie sich der Brexit auf die verschiedenen Märkte auswirkt. Insbesondere was Irland angeht. Die Iren sind riesige Netto-Exporteure vor allem von Milchprodukten und Rindfleisch.
Die Iren müssen 90 Prozent ihrer Rindfleischproduktion im Ausland verkaufen. Bis jetzt war Großbritannien der wichtigste Abnehmer. Wenn es da zu Störungen kommt, was manche befürchten, dann suchen diese irischen Produkte andere Märkte. Und wo sind die? Natürlich in anderen EU-Staaten. Da entsteht dann ein Verdrängungswettbewerb und der geht über den Preis und führt dann dazu, dass bei uns die Bauern im Aufruhr sind, weil die Preise sinken.
Und die EU-Finanzierung?
Das ist eine große Baustelle, weil die Auffassungen der Mitgliedsstaaten sehr unterschiedlich sind, wie künftig die EU finanziert werden soll. Wir sind weit von einem Beschluss entfernt. Und der muss zudem einstimmig fallen. Und Johannes Hahn ist da im Zentrum des Geschehens. Das ist eine sehr schwierige, aber auch eine sehr ehrenvolle Aufgabe, die man dem österreichischen Kommissar anvertraut hat.
Zur Klimapolitik: Sie haben einmal gesagt, die Aufgabe jeder Generation ist, der nächsten zumindest eine nicht schlechtere Welt zu hinterlassen. Haben da Ihre und die folgende Generation versagt?
Zu einem gewissen Grad ja. Insofern, weil wir ziemlich arglos mit der Natur umgegangen sind. So mehr nach dem Motto: Wird eh nix passieren. Man hat, zum Teil passiert das nach wie vor, die Auswirkungen des Klimawandels völlig unterschätzt. Zum einen war eine gewisse Naivität vorhanden: Ob man ein Grad weniger oder mehr Erderwärmung hat, hat man geglaubt, das macht keinen großen Unterschied. Aber das macht riesige Unterschiede.
Und zweitens wurde der Begriff Erderwärmung falsch verstanden. Die Leute haben geglaubt, dass das dazu führen wird, dass man auch im Waldviertel früher oder später Wein anbauen wird. Aber dass die Hauptwirkung darin besteht, dass katastrophale Wetterereignisse sowohl was die Häufigkeit betrifft als auch der Intensität nach zunehmen, darüber hat man weniger geredet.
Das sieht man schon rund um die Welt, dennoch leugnet etwa Donald Trump den Klimawandel.
Das stimmt. Es heißt: Wenn die Menschheit nicht lernfähig ist, dann wird sie nur aus Schaden klug. Aber beim Klima können wir es uns nicht leisten. Wenn bestimmte Punkte überschritten sind, ist die Entwicklung irreversibel. Zurzeit nimmt man an, dass bei drei Grad Erderwärmung ungefähr ein Drittel der Pflanzen ausstirbt. Jede Pflanzenart, die ausgestorben ist, kommt nicht mehr zurück, auch wenn das Klima wieder kühler ist. Die Genetik dafür ist nicht mehr vorhanden. Schon jetzt sterben jeden Tag Arten aus.
Macht Ihnen das Angst?
Es ist keine Frage der Angst, sondern mehr die Frage, was können wir tun? Noch ist es nicht völlig zu spät. Noch kann man in den meisten Bereichen gegensteuern. Die Frage ist, wie bringt man die Menschen und die Gesellschaften dazu, dass sie es auch tun.
Wie bringt man sie dazu?
Die Politik reagiert nur auf Druck. Daher ist die Frage: Wie kann ich die öffentliche Meinung beeinflussen? Wenn die Menschen nachdrücklich verlangen, dass etwas geschehen muss, dann erst reagiert die Politik. Und das ist in erster Linie der Verdienst von Fridays for Future. Dieser Bewegung ist es gelungen, eine Art Weckruf bei der jüngeren Generation zu bewirken. Es ist zu einem gewissen Grad ein Hoffnungsanker, dass es rechtzeitig gelingt, die Politik wachzurufen.
Gehen Sie auf die Straße?
Nein, aber in Alpbach helfe ich den Jungen im Hintergrund mit Argumenten. Meine älteste Enkelin (sie ist 12 Jahre alt) marschiert natürlich mit.
Fünf Maßnahmen, die unbedingt gegen den Klimawandel gesetzt werden müssen?
Da müssen wir an den großen Schrauben drehen. Erstens muss eine Dekarbonisierung bei der Energieerzeugung passieren, sprich die Umstellung auf erneuerbare Energieträger.
Und dazu gehört zweitens die ganze Mobilitätsfrage.
Drittens müssen wir auch mit der Wärmeenergie besser umgehen, vor allem beim Altbestand der Gebäuden, die anders isoliert werden müssen.
Viertens müssen wir in manchen Bereichen unser Konsumverhalten ändern und beispielsweise weniger Fleisch essen, wie unsere Eltern und Großeltern früher.
Und das fünfte Thema ist die Frage der Rodungen der Regenwälder beziehungsweise die Notwendigkeit, Flächen aufzuforsten und auch mehr Humus in die Ackerböden hineinzubringen. Das sind alles Möglichkeiten, CO2 so zu speichern, dass es zu einer CO2-Reduktion in der Atmosphäre führt. Das sind aus meiner Sicht die fünf wichtigsten Handlungsbereiche.
"Ich war mein ganzes Leben mit der Landwirtschaft verbandelt", sagt Franz Fischler (73) von sich selbst. Der studierte Landwirt aus Absam in Tirol war nach seinem Studium an der Universität für Bodenkultur sechs Jahre dort als Assistent tätig. Es folgten weitere zehn Jahre in der Landwirtschaftskammer, bevor der ÖVP-Politiker 1989 Landwirtschaftsminister wurde.
1995 wechselte Fischler in die EU-Kommission, in der er für Landwirtschaft, den ländlichen Raum und in seiner zweiten Amtsperiode ab 1999 auch für Fischerei zuständig war.
Nach seiner Rückkehr nach Österreich fungierte Fischler ab 2005 als Präsident des Ökosozialen Forums. Seit 2012 ist er Präsident des Forums Alpbach.
Fischler ist verheiratet und Vater von vier erwachsenen Kindern. Die KURIER-Frage nach der Zahl seiner Enkelkinder beantwortete er strahlend: "Viereinhalb." Das fünfte Enkerl ist also unterwegs.
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