Handy weg, Herz auf: So funktioniert der Offline Club in London

Zwei junge Frauen sitzen an einem Tisch
Ein Abend ohne Scrollen, Sharen und Social Media? Der Brite Ben Hounsell organisiert in London Feste im ersten "Offline Club".

Der erste Impuls kommt zwei Minuten, nachdem man durch die Tür getreten ist. Zuvor führte der Weg die Treppen neben der Märtyrerkirche in Ostlondon hinunter in eine Krypta, die heute eine Bar ist. Hier schweifte der Blick durch den Raum: blau gestrichene Theke, schräge Gemälde, kleine Holzvitrinen und Ohrensessel aus Samt. Niedlicher Shabby-Chic, dachte man. Das Foto wird auf Instagram bestimmt gut aussehen. Wie von selbst griff die Hand zur rechten hinteren Hosentasche. 

Doch – und man muss  fast beschämt auflachen, als die Finger ins Leere greifen – das geht ja nicht. Schließlich hat man das Handy ja gerade eben der netten Frau mit dem rosa Pulli überreicht. Und sie hat es sorgfältig in den nächsten freien Slot des Handy-Safes geschoben. 

Handy weg, Herz auf: So funktioniert der Offline Club in London

Das Handy wird am Beginn der Veranstaltung weggesperrt

Slot Nummer 9 steht auf dem gelben Armband, das man nun um das linke Handgelenk trägt. Und dazu: Offline Club. Denn dieser steht bevor. Ein paar Stunden ohne Smartphone, Scrollen und Social Media. 

Von Amsterdam nach London

Der Offline Club findet in London seit ein paar Monaten etwa alle zwei Wochen an unterschiedlichen Locations statt. Organisiert wird er vom Briten Ben Hounsell; er begrüßt alle Gäste am Eingang. 

Das Konzept dahinter wurde jedoch in Amsterdam geboren: Die Freunde Ilya, Valentijn und Jordy wollten in der schnellen, ständig vernetzten Welt einen Ort schaffen, in dem Bildschirm- gegen „echte“ Zeit getauscht werden konnte. 2022 starteten sie in kleinem Rahmen mit analogen Lesewochenenden. Mittlerweile hielten sie Events mit 400 "Offlinern" in einer Kirche ab und ihr Instagram-Account, der in einer skurrilen Ironie der Dinge ihr Hauptwerbemittel ist, hat 453.00 Follower

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Jan Ong (re.) hat ihr Handy manchmal 8 Stunden am Tag in der Hand

Auch die 28-jährige Jan Ong, die im hinteren Teil der Krypta-Bar in einem ockerroten Ohrensessel sitzt, bekam das Event aus Social Media vorgeschlagen.

Ist es seltsam, jetzt ohne Handy hier zu sein? Lily McKinzej, die neben Jan sitzt, lächelt und nickt. „Ein bisschen, aber irgendwie ist auch entspannend. Und“, ergänzt die 35-Jährige, „ich möchte künftig eigentlich ein bisschen weniger am Handy sein.“ Dafür hat sie sich sogar einen eigenen Handy-Safe zugelegt. „Der funktioniert mit Timer. Sobald das Handy eingesperrt ist, kann man die Box nicht öffnen, bis der Time abgelaufen ist.“ Das helfe beim Abschalten. 

Jan lehnt sich interessiert vor. „Ich hänge acht Stunden am Tag am Handy“, gesteht sie. „Das ist zu viel.“

6 Stunden 40 Minuten pro Tag

Und doch ist Zahl ist nicht ungewöhnlich. Der durchschnittliche Mensch verbringt täglich 6 Stunden und 40 Minuten vor einem Bildschirm, fast vier Stunden davon sind am Handy. Teenager kommen im Schnitt auf fast neun Stunden am Tag. „Im Monat“, ergänzt Ben Hounsell, „sind sie ganze 49 Stunden auf TikTok.“ Das sind mehr als zwei ganze Tage. Er schüttelt den Kopf. 

Handy weg, Herz auf: So funktioniert der Offline Club in London

Ben Hounsell leitet den Offline Club in London

Dann greift er zum Mikrofon. Denn der Abend folgt einem strengen Plan, wie er den Gästen nun mitteilt: Die ersten 45 Minuten sind für einen selbst, zum Ankommen, zum Runterkommen; danach beginnt der Austausch. 

Ruhige klassische Musik klingt aus den Lautsprechern und die rund 50 Personen im Raum lehnen sich zurück - mit einem Buch, einer Zeitung, einem Kreuzworträtsel. Manche schreiben in ihr Journal, andere sticken oder setzen komplexe Spielfiguren zusammen. 

Zu sich und andere finden

Ohne Handy, das einem die Uhrzeit verrät, ist die Zeit schwer abzuschätzen. Sind zehn Minuten vergangen oder erste zwei? Aber weil man weiß, dass die Zeit begrenzt ist, kann man sich der Pause hingeben. 

Noch etwas fällt auf: Die Aufregung, mit Fremden im Raum zu sein, legt sich, der Puls beruhigt sich. Und weil man hin und wieder aufblickt, werden einem die Gesichter vertraut. Als Ben mit leiser Stimme das Ende der 45 Minuten verkündet, fällt man ganz leicht mit dem Nachbar ins Gespräch.

„Weil man nicht aufs Handy schauen kann“, sagt Danielle di Bernardo. „Das Handy ist ja super praktisch. Aber wir sollten schauen, dass es wieder seinen Zweck erfüllt: als Werkzeug. Nicht als Ort, in dem wir uns verlieren. Wenn man alleine ist, dann nimmt man so schnell das Handy heraus", sagt  er. „Scrollt durch Social Media und gibt vor, beschäftigt zu sein. Aber dabei verpasst man die Chance nach echten Verbindungen.“ Deshalb sei er schon das zweite Mal hier. Weil die Kontakte, die er im Offline Club knüpft, anders sind. 

Sehnsucht nach dem Analogen

Die Sehnsucht nach digital Detox wächst generell. Die Suchanfragen nach „Digital Detox Retreat“ sind laut Business Insider im vergangenen Jahr um 50 Prozent gestiegen. Der Gruppenreiseveranstalter „For The Love of Travel“ hat heuer seine erste handyfreie Reise durchgeführt. 

Und das britische Hüttenunternehmen „Unplugged“ bietet Wochenenden in der Natur zur „digitalen Entgiftung“ an. Die Gäste können ihr Handy benutzen, um die Hütte zu finden. Sobald sie dort ankommen, sollen sie es für die Dauer des Aufenthalts in einer Box einschließen.

Events mit Entgiftungsfaktor

Drei Freunden in Amsterdam wollten Bildschirm- mit echter Zeit ersetzen. In Amsterdam haben sie mit ihrem Konzept bereits Kirchen gefüllt. Nun gibt es die Events auch in London und Paris. Andere Orte sind in Vorbereitung. 

Details gibt es hier.

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Socialisen ganz ohne Social Media

Kurz vor 21.30 brechen in der Krypta-Bar die ersten Gäste auf. Gemeinsam mit dem Handy überreicht Ben ein Kuvert. „Ein Brief?“, fragt Lily McKinzej. „Für mich?“ Ein handgeschriebenes Dankeschön. Es war Bens eigene Idee und passt so viel besser zu dieser Veranstaltung als ein elektronisches Nachhacken per Mail. 

Leichten Schrittes läuft man dann die paar Minuten zurück zur U-Bahn. Und erst als die nächtlich beleuchtete Tower Bridge vor einem auftaucht - was für ein Fotomotiv! - erkennt man, dass man das Handy noch gar nicht wieder aufgedreht hat. 

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