Die Radikalisierung in Nahost

Peter Scholl-Latour im KURIER-Interview über die Dramen in Ägypten und Syrien.

Seine Stimme „schabt wie ein loses Unterbodenblech über Asphalt“, hat einmal jemand geschrieben, und das trifft es gut. Wobei der Asphalt bei einem Interview mit Peter Scholl-Latour eine Einbahnstraße ist, in Richtung seiner Weltsicht, wohin sonst? Er war schließlich schon überall. Und wenn jemand widerredet, kann er auch laut werden. Wie im TV bei Anne Will, als ein junger Diskutant auf seine Treffen mit Facebook-Revolutionären in Arabiens Frühling verwies – für eine Revolution brauche man „Schläger und Ganoven“, keine Facebooker, donnerte der alte Mann, der schreibt und redet und redet und schreibt. Eben erst sein 34. Buch: „Die Welt aus den Fugen“.

Trotz liebevollen Spotts, der ihm manchmal entgegenschlägt (sein zweiter Vorname sei K., für „Kenn-ich-alles“), steht fest: Kaum ein zweiter Journalist deutscher Zunge hat eine derartige Reise- und Recherche-Erfahrung und eine so ausgeprägte Expertise in der Welt der internationalen Politik.

In der des Nahen Ostens zumal. Für den sieht Scholl-Latour nicht nur wegen der Ereignisse in Ägypten ziemlich düster. Dort gab es diese Woche Tote bei Zusammenstößen zwischen Anhängern und Gegnern des Präsidenten. Sein Dialogangebot für Samstag hat die Opposition zunächst abgelehnt.

KURIER: Auf dem Tahrir-Platz wird wieder demonstriert – droht Ägyptens Präsidenten Mursi ein ähnliches Schicksal wie seinem Vorgänger Mubarak?
Peter Scholl-Latour: Die, die dort demonstrieren, sind auch die, die damals die Facebook-Revolution begonnen haben. Und es hat sich erwiesen, dass die nicht die wirklich treibende Kraft im Land sind. Die Muslimbrüder und die Salafisten waren bei den Wahlen die weit stärkere Kraft, weil die liberalen und intellektuellen Gruppen sehr zersplittert sind.

Die sind die Minderheit?
Ja, die sind eine elitäre Minderheit, die auf die großen Städte beschränkt sind.

In Ägypten reißt Mursi alle Macht an sich. In Syrien hält sich Assad blutig an der Macht, aber wenn er stürzt, drohen Radikale in das Vakuum zu drängen. In Tunesien sind Muslimbrüder an der Macht. Von Libyen aus strömen Islamisten nach Afrika – ist der Traum vom Arabischen Frühling zwei Jahre nach seinem Beginn schon ausgeträumt?
Den Arabischen Frühling hat es nie gegeben. Er hat sich ja nirgends positiv ausgewirkt. Selbst Tunesien, wo die größten Hoffnungen lagen, gleitet in Unruhen ab.

Was war der Arabische Führling dann?
Ein Aufbegehren gegen eine erstarrte Hierarchie, die zutiefst korrupt war, ein Ausdruck des Volkszorns. Aber wie die Revolution weitergeht, wissen wir nicht.

Die Hoffnung auf eine Demokratisierung der Region ist nur eine Illusion des Westens?
Ja, natürlich. Die islamischen Länder werden nicht danach streben, die westliche Lebensform zu übernehmen. Die wollen ihre Lebensform haben und weiter ausgestalten, sofern das geht innerhalb der strengen Auslegung von Koran und Scharia. Aber das ist deren Angelegenheit, darauf haben wir wenig Einfluss. Wir können unsere Gesellschaft nicht auf die übrige Welt übertragen, das gilt nicht nur für den arabischen Raum, sondern auch für China, Russland und andere.

Hätte der Westen im Arabischen Frühling, der keiner war, etwas anders machen können?
Wir haben uns ja nicht übermäßig eingemischt, außer in Libyen, und es wäre klug gewesen, wenn wir uns ganz rausgehalten hätten. Aber es ist noch nicht vorbei: Wir mischen uns im Moment in Syrien ein. Möglicherweise mit dem Erfolg, dass das Assad-Regime, das im Vergleich zu anderen relativ erträglich war, durch eine salafistische Richtung mit extremer Auslegung der islamischen Gesetzgebung ersetzt wird, dass es zu einem weiteren Bürgerkrieg zwischen den verschiedenen religiösen und ethnischen Gruppen kommt.

In Syrien mischt sich nicht nur der Westen ein – Saudi-Arabien, Iran, Russland, die Türkei, alle haben dort ihre Interessen.
Im Grunde sind es zwei Konflikte in Syrien: Der eine hat strategisch-wirtschaftliche Gründe: Die USA versuchen, eine gewisse Vorherrschaft zwischen Mittelmeer und Mesopotamien zu erhalten und zu verhindern, dass sich eine iranisch beherrschte Landbrücke bis zum Mittelmeer bildet. Deshalb wollen sie das Regime Assad loswerden, das vorher im Grunde niemandem etwas getan hat, außer dass es mit dem Iran verbunden war. Das ist die fixe Idee der USA, dass der Iran die größte Gefahr für den Westen sei. Der andere Konflikt kommt aus der Entschlossenheit der sunnitischen Kräfte, eine schiitische Vorherrschaft zwischen der Grenze Afghanistans und dem Mittelmeer zu verhindern. Das wird noch viel blutiger werden.

Da kommt Saudi-Arabien auf sunnitischer Seite ins Spiel ...
Genau. Und die absurde Situation ist ja, dass der Westen Saudi-Arabien als Verbündeten betrachtet, mit Waffen unterstützt und zur Vormacht des Orients aufbaut, wo Saudi-Arabien das reaktionärste und intoleranteste Land der ganzen Region ist, dessen Regime nur mit dem der Taliban verglichen werden kann.

"Dann gnade uns Gott"

US-Präsident Obama hat Assad wegen der angeblichen Chemiewaffenproduktion so scharf gedroht wie noch nie.
Das erinnert fatal an die Kampagne, die gegen Saddam Hussein geführt wurde. Obwohl Syrien zweifellos über chemische Waffen verfügt, aber mit ziemlicher Sicherheit nicht die Absicht hat, sie einzusetzen. Die größere Gefahr ist, dass nach einem Sturz Assads dort unkontrollierbare Gruppen wie die Al-Kaida in den Besitz dieser Waffen kommen, und dann gnade uns Gott.

Ist die Wahrscheinlichkeit gewachsen, dass der Westen eingreift?
Ich verstehe die westliche Haltung und die Patriot-Raketen für die Türkei sowieso nicht. Die Türkei ist ein Koloss im Vergleich zu Syrien, und bisher sind nur ein paar Granaten dort eingeschlagen – es kann auch sein, dass die von Aufständischen kamen, um die Türkei zu einem Eingreifen zu provozieren. Jetzt will sie die Oberhoheit über die Patriot-Raketen. Vielleicht soll ja eine Flugverbotszone geschaffen werden, die den Weg frei macht zur Eroberung Aleppos.

Wie lange wird das Schlachten in Syrien dauern? Gibt es eine Chance, dass sich danach die Radikalen nicht durchsetzen?
Im Moment deutet es eher darauf hin, dass gerade aufgrund des Engagements Saudi-Arabiens, Katars, der Türkei, Frankreichs, der Europäer dann die kämpferischen Elemente die Macht ergreifen.Weil die Opposition, die da jetzt gebildet ist und von allen als demokratischer Zusammenschluss akklamiert wird, ist so lächerlich wie damals die Gegenregierung in Bengasi (Libyen), die schon auseinandergefallen ist.

Was bedeutet das alles für Israel? Der stabile Feind im Norden ist weg, der instabile Freund im Süden, Ägypten, wackelt ...
Die israelische Politik ist schwer erklärbar. Im Grunde hätte Israel alles Interesse gehabt, dass das Assad-Regime erhalten bleibt – es ist seit dem Jom-Kippur-Krieg kein einziger Schuss gefallen. Jetzt kommen in Syrien Kräfte zum Zug, die nicht mehr kontrollierbar sind. Und Sie haben recht: In Ägypten muss Präsident Mursi sehr aufpassen, dass er nicht zu viele Zugeständnisse gegenüber Israel macht und bei den eigenen Leuten in Ungnade fällt.

Israel reagiert wie immer: Gefahren wie die Hamas bekämpfen, Siedlungen ausbauen.
Israel stellt sich mit einer Provokation gegen die übrige Welt, nicht nur die arabische, die gerade für den Beobachterstatus der Palästinenser bei der UNO gestimmt hat. Der Ausbau der Siedlungen macht künftig eine Zweistaatenlösung unmöglich.

Wo steht die Region heute in einem Jahr?
Das kann man überhaupt nicht sagen. Der libanesische Bürgerkrieg hat 15 Jahre gedauert. Irgendwann werden die Amerikaner begreifen, dass der Aufstand in Syrien sich am Ende gegen sie richten wird, weil die Salafisten dort die Macht ergreifen werden. Dass der Vertreter der Hamas, der bisher in Damaskus residiert hat, jetzt nach Katar gegangen ist, dass die radikalen Palästinenser also jetzt Unterstützung bei den sunnitischen Emiraten und Saudi-Arabien suchen und finden, muss den USA auch zu denken geben.

Unermüdlich Reisender durch die Weltpolitik

Peter Scholl-Latour wurde 1924 in Saarland geboren. Nach dem Krieg (Gestapo-Haft in Graz, Wien) heuerte er bei französischen Fallschirmjägern in Indochina an, ehe er in Paris und Beirut Politikwissenschaft, Philologie und Arabistik studierte. Schon in dieser Zeit bereiste er als Journalist die Welt, wurde später Afrika-Korrespondent der ARD, ZDF-Chefkorrespondent und Leiter des Pariser ZDF-Studios, von wo er regelmäßig Vietnam im Krieg bereiste.

Weitere Stationen unter anderen: WDR-Fernsehdirektor sowie Chefredakteur und Herausgeber des „Stern“. Mit seinem dritten Buch „Der Tod im Reisfeld“ (1980) über Vietnam wurde er als Buchautor berühmt, 31 weitere Bücher zumeist über Fernost, Afrika und den Nahen Osten folgten. Zuletzt erschien im Oktober „Die Welt aus den Fugen“ (Propyläen-Verlag). Scholl-Latour ist verheiratet, lebt in Bad Honnef, Berlin und Paris.

Kommentare