Irgendwie ist Jaroslaw Kaczynski in einem nicht gerade an Phänomenen armen Land das größte Phänomen. Äußerlich nicht gerade ein Hingucker, was er übrigens mit vielen Politikern gemeinsam hat (Sebastian Kurz ausgenommen) ist er genauso bauernschlau wie manipulativ. Seit Jahren verarztet er erfolgreich Polens größte Wunde, in dem er sie wieder aufreißt: Polens Enttäuschung über den Eintritt in die westliche Konsumgesellschaft.
Als Walesa das Land veränderte
Als vor genau 30 Jahren der ehemalige Elektriker aus Danzig, Lech Walesa, den Kommunismus „kurzschloss“, brach für den ganzen Ostblock das goldene Zeitalter der Freiheit an. Insbesondere Polen, ein Staat, der in den letzten 200 Jahren immer wieder von der Landkarte verschwand, um auf einem anderen Ort aufzutauchen, konnte endlich den größten Traum erfüllen.
Für die Polen galt Westeuropa immer schon als das irdische Paradies, wo Meinungs-Reisefreiheit herrschte und die Menschen ein würdiges Leben führten. Man empfing das westliche Paradies mit offenen Armen, und alles ging solange gut, bis das Paradies anfing, an mit faulen Früchten zu handeln. Statt der ersehnten Freiheit, einem besseren und gerechten Lebensstandard und der reinigenden Kraft der Demokratie bekam man riesige Einkaufszentren, Bananen zum halben Preis und ein hinterhältiges Ding namens Leasing geschenkt, das den ausgehungerten Polen vorgaukelte, alles umsonst haben zu können, was man sich nur wünschte.
Polen, seit Jahrhunderten allergisch auf Teilungen, erlebte die tückischste Teilung von allen. Man war auf einmal nicht zwischen Preußen und Russland geteilt, sondern in Gewinner und Verlierer. Allein in Warschau stieg im ersten Jahr nach der Wende die Anzahl der Cabrioautos um 1000 Prozent, während die Anzahl der Obdachlosen um den gleichen Faktor zunahm. Polens Arbeiterschaft, die ihr halbes Leben in kommunistischen Kombinaten schuftete, fand sich am Fließband von Amazon und Siemens wieder.
Eine Frage fing an die Runde zu machen, die niemand wahrhaben wollte: Haben wir vielleicht doch ein Regime gegen ein anderes getauscht? Und wenn ja, wie sollte man ihm beikommen? Der Kommunismus hatte eine Parteizentrale, die wir gestürmt haben, aber wo sitzt die Zentrale des Kapitalismus? Etwa in der eigenen Brust?
Sogar Lech Walesa gab widerwillig zu: „Ich wollte die Demokratie ins Land bekommen, aber stattdessen haben wir 20 Konzerne hereingelassen“.
Kaczynskis Strategie
Jaroslaw Kaczynski erkannte diese Enttäuschung und machte sie zu seinem Kapital. Er verwaltet sie seitdem bravourös. Viel muss er nicht tun. Hier wurden ein paar Ehrenpensionen für Exkommunistische Apparatschiks gestrichen, dort ein spezielles Kindergeld eingeführt. Ganz nach dem Motto: „Gib dem kleinen Mann ein bisschen Geld, und er wird es als großen Respekt auslegen“.
Kaczynski regiert schon längst nicht mehr politisch, sondern psychologisch. Wenn etwas schief läuft sucht er schnell einen Schuldigen. Darin ist er Meister. Als sein Zwilling Lech bei einer Flugzeugkatastrophe umkam, waren die Russen daran schuld. Als der polnische Arbeitsmarkt stagnierte, lag es an syrischen Flüchtlingen. Dass die Flugzeugkatastrophe kein Attentat war und dass seine Regierung keine syrischen Flüchtlinge ins Land lässt, war egal. Manchmal wird es wenigstens lustig: Einmal behauptete einer seiner Minister, dass Radfahrer und Vegetarier einen zersetzenden Einfluss auf die polnische Bevölkerung ausüben.
Schwache Opposition
Man müsste glauben, dass jede halbwegs intelligente Oppositionspartei aus diesem Gemisch aus Heuchelei und Manipulation Kapital schlägt. Dem ist nicht so. Die prowestliche PO (Platforma Obywatelska) hat nichts auf die Reihe gebracht. Schade um die vielen Leute, die Kaczynski nicht gewählt haben. Sie sind in Polen in der Mehrheit. Die gute Nachricht lautet wenigstens: Man hat jetzt weitere vier Jahre, um aus eigenen Fehlern zu lernen. Inzwischen macht Kaczynski munter weiter.
Letzte Woche vergaß das staatliche Fernsehen, den Literaturnobelpreis von Olga Tokarczuk zu erwähnen, weil die Autorin mal die PIS kritisierte. Man stelle sich vor: Peter Handke bekommt den Literaturnobelpreis, und der ORF verliert kein Wort darüber. Aber dass Polen die Fußballqualifaktion geschafft hatte, wurde auf allen Kanälen gesendet.
Immerhin steckt in jedem nationalen Sieg stets ein bisschen etwas von einem Jaroslaw Kaczynski.
Radek Knapp, geboren in Warschau, lebt seit seinem 12. Lebensjahr in Wien. Zu seinen Werken gehört unter anderem der Longseller „Herrn Kukas Empfehlungen“ sowie „Die Gebrauchsanweisung für Polen“.
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