Wie der rechte Kulturkampf in die deutsche Koalition einzog

Wenn der stets besonnene Frank-Walter Steinmeier sagt, die Koalition habe „sich selbst beschädigt“, dann muss wirklich etwas passiert sein. Der Bundespräsident lässt sich nur sehr selten in die Niederungen der Tagespolitik herab – vor allem nicht, wenn eine Koalition erst kurz im Amt ist.
Nicht einmal 100 Tage regiert Friedrich Merz als Kanzler, und seit Freitag ist die Stolperstrecke, mit der er seine Amtszeit begann, um eine Episode reicher. Da wollte die Koalition aus Union und SPD eigentlich eine Formsache durch den Bundestag bringen: die Bestellung von drei neuen Richtern am Bundesverfassungsgericht. Dieser Vorgang folgt seit Jahren demselben informellen Muster: Die Bundestagsparteien wechseln sich beim Nominieren ab, diesmal durfte die SPD zwei, die Union eine Juristen ins Rennen schicken.
Gekommen ist allerdings alles anders. Der Beschluss wurde verschoben, wann oder wie er wiederholt werden kann, steht in den Sternen, und der Bundespräsident sorgt sich um das Land.
Was ist da nur passiert?
Getrieben von der AfD
Die Antwort auf die Frage ist komplexer als der Sachverhalt an sich. Anfang der Woche sah alles normal aus: Die beiden Fraktionschefs sicherten sich öffentlich gegenseitig Unterstützung zu, man wähle die Kandidaten der jeweils anderen Partei natürlich, wie man es im Bundestag gewohnt ist, hieß es. Doch während die SPD nichts an ihrer Haltung änderte, lief bei der Union alles aus dem Ruder: Dort meldeten Abgeordnete Zweifel an einer SPD-Kandidatin an, der Uni-Professorin Frauke Brosius-Gersdorf. Sie sei, so hieß es plötzlich, eine „ultralinke Radikale“.
Angeheizt hatte den Vorwurf die AfD, die im Netz wie auch im Bundestag eine Kampagne gegen Brosius-Gersdorf gestartet hatte. Die Juristin sei nicht nur Impfpflicht-Hardlinerin, sondern auch „radikale Abtreibungsbefürworterin“, wolle Abbrüche bis kurz vor der Entbindung erlauben, wurde getrommelt. Das Thema ist hochsensibel und klickträchtig – darum sprangen reichweitenstarke rechte Seiten wie Nius darauf auf, das Portal von Ex-Bild-Chef Julian Reichelt.
Das sorgte für zunehmend Verunsicherung in der Union. Im Laufe der Woche sprangen immer mehr Angeordnete ab, am Freitagvormittag zog Unions-Fraktionschef Jens Spahn dann gemeinsam mit Kanzler Friedrich Merz die Notbremse: Die Richterwahl wurde von der Tagesordnung gestrichen.
Allein: Begründet hat Spahn das nicht inhaltlich, sondern er streute das Gerücht, die Juristin habe ihre Dissertation plagiiert. Das, so ließ er auf den Fluren des Bundestags erzählen, habe der österreichische Plagiatsjäger Stefan Weber eruiert.
Das Unionsdilemma
Beendet hat Spahn das Drama nicht, im Gegenteil. Denn Weber teilte noch am selben Tag mit, dass er gar „keinen Plagiatsvorwurf erhoben“ habe (er hatte festgestellt, dass die Juristin ähnliche Worte wie ihr Mann gebraucht habe; der hat seine Arbeiten aber deutlich später verfasst als sie). Damit war Spahn öffentlich der Lüge überführt, und Partei samt Kanzler beschädigt.
Spahn offenbarte mit seinem Verhalten aber vor allem ein Grunddilemma seiner Partei. In Umfragen liegt die AfD fast gleichauf mit der Union, doch inhaltlich weiß die Kanzlerpartei sich nicht von den Rechtspopulisten abzusetzen, im Gegenteil. Sie – und das gilt für Jens Spahn im Besonderen, der gern über „arabische Muskelmachos“ wettert – übernimmt freihändig Kulturkampf-Themen von ihr; die verkaufen sich gut.
Politische Substanz hat all das aber selten. Sieht man sich Brosius-Gersdorfs Positionen nämlich genauer an, bleibt von den „Ultralinks“-Vorwürfen nicht viel übrig. Ihre angeblich radikale Abtreibungshaltung fußt auf einem Gutachten, in dem sie Rechte ungeborenen Lebens und Rechte der Mutter gegeneinander abwiegt – und Spätabtreibungen explizit ausschließt. „Wenn die Position von Frauke Brosius-Gersdorf zu diesem Thema links ist, dann wäre die große Mehrheit der Bundesbürger links“, urteilt die Zeit. Den meisten Lesern von Nius dürfte das egal sein – die Juristin wird mit Morddrohungen überhäuft.
Für Friedrich Merz, gerade drei Monate im Amt, ist das eine maximale Schlappe. Und für Jens Spahn möglicherweise der Beginn des politischen Abstiegs, ihm droht wegen freihändiger Maskenbeschaffung in der Pandemie auch noch ein U-Ausschuss. Über das ganze Wochenende fand sich auch kaum jemand aus der Union, der ihm beistand.
Gestärkt aus dem Schlamassel geht nur die AfD hervor. Sie hat ihre Kulturkampf-Themen als Sprengsatz in der Koalition platziert. Nicht umsonst frohlockte Parteichefin Alice Weidel am Freitag: „Hach, ist das schön.“
Kommentare