Doch die Anti-Establishment-Parolen des Brexit üben auf so manche professionellen Rebellen offenbar eine große Anziehungskraft aus, wohl auch mit Hintergedanken an ihre Glaubwürdigkeit beim eigenen Publikum. Mutige Pop-Stars wie die meinungsstarke Lily Allen haben in sozialen Medien einen heftigen Backlash für ihre Kritik am Brexit einstecken müssen: „Ich würde den Erstbesten wählen, der den Brexit ungeschehen macht“, hatte sie auf Twitter geschrieben, samt Prognosen dazu, wie der Brexit gerade die Armen in Großbritannien noch ärmer machen würde.
Sie sei selbst abgehoben und wisse nicht, wovon sie spreche, hallte es aus der Twittersphäre zurück. Johnny Rotten dagegen erklärte unter enthusiastischer Zustimmung seiner alten Fans auf diversen Online-Foren, er wolle dem Brexit-Hardliner Nigel Farage „die Hand schütteln.“
"Ein großartiger Schritt"
Und diese Einstellung teilte er bei weitem nicht bloß mit dem nach weit rechts gedrifteten Ex-Smiths-Sänger Morrissey. Auch der sonst dem Wahlspruch „Peace and Love“ verpflichtete Beatle Ringo-Starr bekannte gegenüber der BBC: „Die Kontrolle über sein eigenes Land zu haben, ist ein großartiger Schritt.“ „Aber sagen Sie Bob Geldof nichts davon.“ Das Volk habe abgestimmt, „und jetzt müssen sie es durchziehen. Plötzlich heißt es: Oh, wir mögen das Ergebnis nicht. Was soll das bedeuten?“ Zwar war sich der für seltsames Gebaren hinreichend bekannte Starkey zuletzt nicht ganz sicher, ob er tatsächlich für den Brexit gestimmt oder es nur vorgehabt hatte, aber die Meinung eines Ex-Beatles hallte trotzdem in den britischen Medien wieder.
Starrs überlebender alter Bandkollege Paul McCartney, von jeher keine konfliktfreudige Natur, ließ seinen gegenteiligen Standpunkt erst diesen Herbst, ebenfalls in einem BBC-Interview, durchblicken: „Was mich abstieß, war, dass ich viele ältere Leute traf, so ungefähr aus meiner Generation, und die sagten: 'Alles klar Paul! Es wird wieder wie zu alten Zeiten sein, wir werden wieder zurückgehen.' Und ich: 'Echt? Bin mir nicht so sicher, was ich davon halte.'“ McCartney gestand ein, selbst nicht abgestimmt zu haben: „Ich habe einfach niemanden gehört, der etwas ausreichend Vernünftiges zum Thema von sich gegeben hat.“
Tatsächlich teilt das Thema Brexit nicht nur Generationen und Familien, sondern auch Bands – und da einige der größten Namen aus den Geschichte der britischen Rockmusik .
So konnten die im ewigen Streit befindlichen Brüder Gallagher, bei Oasis ehemals Aushängeschilder des Union-Jack-wedelnden Britpop-Booms der 1990er-Jahre, dieser Gelegenheit für einen Geschwisterzwist nicht widerstehen. „Das einzig Schlimmere als die Deppen, die für den Brexit gestimmt haben“, sagte Songwriter Noel Gallagher, „das ist die Sorte (grobes britisches Schimpfwort, Anm.), die versucht, das Votum umzukehren. Ihr habt an einem demokratischen Prozess teilgenommen. Wenn ihr das Ergebnis nicht mögt, geht nach Nordkorea.“
Er selbst, so Noel, habe am Tag der Abstimmung „seinen Arsch nicht zum Stimmlokal bewegen“ können, denn: „Wer sollte verdammt noch mal dafür stimmen, Europa zu verlassen?“ Doch die seitherigen Bemühungen, das Ergebnis umzukehren seien „eine reine Schande. Das ist Faschismus.“
„Es gibt nichts Schlimmeres als den (ähnlich grobes Schimpfwort, Anm.), der nicht wählt und dann eine Meinung hat“, konterte sein jüngerer und schlichterer Bruder Liam messerscharf via Twitter.
Wie bei den Beatles gibt es auch von einer weiteren Gruppe aus der Zeit der „British Invasion“ in den 1960ern nur noch zwei überlebende Mitglieder: Pete Townshend und Roger Daltrey von The Who. Und auch zwischen diesen beiden Überlebenden gehen die Meinungen zum Thema Brexit ganz offensichtlich diametral auseinander.
Als der glühende Brexit-Verfechter Roger Daltrey im Frühling bei einem TV-Interview im Wembley-Stadion für ein dort bevorstehendes Who-Konzert die EU mit der „verdammten Mafia“ verglich, lief Gitarrist Pete Townshend zur Vermeidung des Themas aus dem Bild. Aber in der aktuellen Ausgabe des Musikmagazins Mojo sagt er: „Ich stimmte nicht für den Austritt, aber so viele von uns, die das taten, dachten vielleicht nicht viel daran, dass auch Irland in der EU ist. Sie wissen schon, die Iren gehören doch zu uns. Die schottische Position ist auch anders. Die Mehrheit der Leute, die für 'Leave' gestimmt haben, vergessen, dass wir selbst eine Union sind.“
Sehr wahr und konziliant formuliert. Wesentlich schärfere Worte wählte dagegen der unerschrockene Elton John: „Ich schäme mich für mein Land und was es getan hat“, sagte er im Mai bei einem Konzert in Verona, „Ich kann den Brexit auf den Tod nicht ausstehen. Ich bin ein Europäer, nicht ein stupider, kolonialistischer, imperialistischer englischer Idiot.“
Robert Rotifer, London
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