DDR-Zeitzeuge Siegbert Schefke: "Wer eine Kerze hält, kann keine Steine werfen"
In Deutschland wurde die Geschichte oft erzählt, sogar zweimal verfilmt – bei uns ist sie unbekannt: Am 9. 10. 1989 filmte der Untergrund-Oppositionelle Siegbert Schefke als einziger den friedlichen Protestmarsch in Leipzig, damals DDR. Er schätzte die Menge der Menschen auf 70.000, seitdem ist diese Zahl legendär. Das Filmmaterial schmuggelte er über seine vertrauten Kanäle in den Westen. Als es am nächsten Tag in der BRD, in Europa und der ganzen Welt ausgestrahlt wurde, begann der finale Zusammenbruch der DDR – die Aussagen der Führung, dass „nur ein paar gewaltbereite Rowdys“ bei den Montagsmärschen demonstrierten, waren plötzlich unhaltbar. Und weil das autoritäre Regime die 70.000 friedlichen Protestierer gewähren ließ, wurden die Demos in anderen Städten – durch Leipzig und die Bilder motiviert – immer größer, bis am 9. November die Mauer fiel. Die Friedliche Revolution wird in Leipzig jährlich durch das Lichtfest gefeiert, heuer zum 35. Mal und größer als sonst. Der KURIER traf Siegbert Schefke, den Mann, ohne den es die Wende vielleicht nicht gegeben hätte, an den Schauplätzen dieses 9. Oktober in Leipzig.
Zeitzeuge Schefke im Interview in Leipzig
KURIER: Sie sind eine Berühmtheit. Ihre Kamera liegt im Museum und die Filmaufnahmen von Leipzig sind in die Geschichte eingegangen.
Siegbert Schefke: Ich wusste, wenn etwas in der DDR passieren würde, dann in Leipzig. Die jungen Leute waren anders, das spürten wir. Heute wissen Historiker, dass das der Tag der Entscheidung war. Aber damals war es ein Tag der Angst. Wir wollten zeigen, dass es eine friedliche Demonstration ist. „Keine Gewalt“ war eine der Hauptlosungen. Mit 70.000 DDR-Bürgern, die zum ersten Mal in dieser Masse mit den Füßen abgestimmt haben. Aber man sieht auf den Bildern: kein einziges Plakat. Die Angst war so groß vor der Staatsmacht – 7.000 Soldaten und Polizisten unter Waffen in den Seitenstraßen. Aber sie bekamen keinen Befehl.
Man muss sich vor Augen halten, dass nur vier Monate davor das chinesische Militär die Proteste in Peking blutig niedergeschlagen hatte. Mit tausenden Toten.
Das stand natürlich hier auch irgendwie im Raum. Das ist nicht so, dass die Leipziger einmal um den Stadtring gegangen sind und schon ist die DDR zusammengefallen. Der damalige DDR-Staatsratsvorsitzende, Egon Krenz, war auch in Peking und hat seinen Genossen zu ihrem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens gratuliert.
Es war also ein Tag zwischen Angst und Hoffnung. Sie kamen dafür extra aus Berlin – hatten sich der Überwachung mit einem Geheimweg über die Hausdächer entzogen, die Stasi dachte, sie wären die ganze Zeit daheim – und fuhren auf der Autobahn nach Leipzig, um zu filmen.
Es war bedrohlich: Du fährst mit dem Trabi und überholst Militärkonvois auf dem Weg hierher. Richtige Kolonnen mit zehn, zwanzig Autos. Da sitzen Soldaten mit Maschinengewehr drauf. Ich sagte zu meinem Kollegen Aram: „Die haben doch was vor in Leipzig. Die fahren doch nicht zum Picknicken da hin.“ Wenn du dann später versteckt liegst und filmst, ist das besonders. Stellen Sie sich vor, wir wären nicht da gewesen – keiner hätte es mitbekommen.
Manche sagen sogar, ohne diese Bilder hätte es die Wende womöglich nicht gegeben. So haben alle gesehen: Das lässt sich nicht aufhalten.
Als wir da oben filmten, sagte Aram zu mir: „Wenn die Bilder morgen im Westfernsehen laufen und damit auch alle DDR-Bürger das sehen, ist das ein Multiplikator. Das wird nicht nur die DDR und Deutschland verändern. Das wird Europa und die Welt verändern.“ So voller Freude waren wir da.
Wo war „da oben“? Die Suche nach dem Kamerapunkt war nicht einfach. Sie waren zuerst irrtümlich in einem Hochhaus voll mit Stasi.
Dann haben wir zufällig Freunde aus Leipzig getroffen, die sagten: „Mensch, geht zur Reformierten Kirche, da issn toller Pfarrer, der lässt euch bestimmt rein.“ Wir sind da diese Hühnerleiter hochgelaufen und haben uns in den Taubendreck im Turm gelegt.
Und sahen die Massen. Wobei die Zahl „70.000“ haben Sie festgesetzt. Es gab ja keine Zählung.
Dieses Mal hatten wir das Gefühl, die Stadt ist am Nachmittag schon voll. Es sind Zehntausende hier. Dann haben wir festgelegt, es sind heute 70.000. Es ist gut, wenn eine Zahl nur kursiert. Wenn jeder etwas anderes erzählt, gibt es nur Unruhe.
Die ehemalige Stasi-Zentrale ist heute als „Runde Ecke“ berühmt in Leipzig. „Wenn dort nicht geschossen wird, dann fällt der Unrechtsstaat“, schreiben Sie in Ihrem Buch.
Hier war die Macht der Stasi. Der Demonstrationszug näherte sich und die Anspannung stieg. Aber die Menschen legten vor dem Haupteingang Kerzen ab. Über ihnen wackelten die Gardinen, die Stasioffiziere zauderten, die zögerten. Was tun? Eine Kerze ist ja symbolisch: Du kannst keine Steine werfen. Du hast die Kerze in der Hand und mit der anderen Hand musst du die Flammen schützen, damit sie nicht ausgeht.
Wie sie im Buch schreiben: Wer eine Kerze hält, kann keine Steine werfen.
So ist’s. Auch heute wieder.
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