"Das Kopftuch ist eine Schande für den Islam"

„Die Verhüllungsverse sind ja eine Empfehlung, kein Verbot“
Emel Zeynelabidin hat 30 Jahre Kopftuch getragen. Ohne fühlt sie sich freier, ist aber gegen ein Verbot.

KURIER: Was war der Auslöser dafür, dass Sie vor zehn Jahren Ihr Kopftuch abnahmen? Sie haben es 30 Jahre getragen, sind Tochter eines prominenten Muslims.

Emel Zeynelabidin: Rückblickend weiß ich, dass die Begegnung mit einem Mann, die bei mir allmählich sehr große Gefühle der Nähe und Vertrautheit ausgelöst hat, meinen Veränderungsprozess ermöglicht hat. Das alles wurde wichtiger als mein Leben als Mutter von sechs Kindern, als Tochter, als muslimisch gläubige Frau. Ich hatte eigentlich eine gute Ehe, aber ich steckte in meiner Welt fest, die ziemlich ideologisch geprägt ist. Zeitgleich begann die Kopftuchdebatte, in die ich mich als Vorsitzende des Islamischen Frauenvereins politisch einmischte und dabei Medien auf mich aufmerksam machte. Ich begann dadurch zu hinterfragen, warum ich das Tuch eigentlich trage.

Was war die Antwort?

Ich lernte zu den immer wieder herangezogenen beiden "Verhüllungsversen" im Koran die sogenannten "Offenbarungsgründe" dieser beiden Verse kennen. Die zwei Verhüllungsverse sind ja eine Empfehlung, kein Verbot, und sie müssen im Kontext gelesen werden: Sie sollten die gläubigen Frauen schützen – und sie von den damaligen Sklavinnen unterscheiden. Heute gibt es die aber nicht mehr. Da muss ein Irrtum vorliegen, da ist etwas verfälscht worden, im Namen der Religion, dachte ich mir. Ich glaube heute an einen Gott, der keine Vorschriften macht, das unterscheidet mich: In islamischen Kindergärten, in Familien herrscht eher die Vorstellung von einem Gott vor, der etwas von einem verlange. Wenn Gott etwas verlangt und mit Belohnung und Bestrafung sanktioniert, dann besteht aber ein gegenseitiges Abhängigkeitsverhältnis! Indem ich gehorche oder nicht, beeinflusse ich Gottes Handeln! Ein überhebliches Menschenbild, finde ich! Dabei könnte das alles einfach nur ein Vorwand sein, um patriarchalische Zustände zu rechtfertigen.

Sie meinen, viele Frauen tragen das Kopftuch aus Angst?

Die muslimischen Männer wissen sehr wohl, mit welchen Problemen Frauen wegen ihres Kopftuchs zu kämpfen haben, in der Ausbildung, im Beruf. Sehr viele Frauen lassen sich das aus Angst gefallen, denn die ganzen Konsequenzen wären sehr unangenehm. Auch ich wäre damals beinahe kaputtgegangen, als ich mit dem Vorwurf konfrontiert wurde, ich sei vom Teufel besessen und vom Glauben abgefallen. Es waren jene großen Gefühle der Liebe, aus denen ich meine Kraft schöpfte.

Wie reagierte Ihre Familie?

Mein Vater ist 1986 gestorben, er hat das nicht mehr erlebt. Mein damaliger Ehemann war sehr besorgt, weil ich ja ohne die Verhüllung eine Sünde begehe – ich befolge ja angeblich Gottes Gesetz nicht mehr, ich widersetze mich Gottes Willen.

Hat der Schritt Ihre Haltung zum Glauben verändert?

Ich habe das Praktizieren der Rituale abgelegt. Das ist für manche in meiner Familie sehr schwer zu akzeptieren. Aber ich mag die Zwanghaftigkeit nicht, die hinter diesen Pflichtritualen steckt.

Wie stehen Sie zu einem Kopftuchverbot?

Man kann ja nicht einen Zwang mit einem anderen aufheben, das ist genauso schlimm – der Staat bevormundet, und er diskriminiert damit. Das Verbot greift in das Privatleben einer praktizierenden Muslimin ein, es berücksichtigt nicht, warum sie das Tuch trägt oder welche Konsequenzen das für sie haben wird. Was ist das für ein kompliziertes und starres Verständnis von Religion, in der solche Praktiken erwartet werden? Ich sage deshalb heute: Das Kopftuch ist eine Schande für den Islam, das staatliche Verbot eine Schande für die Demokratie.

Das Kopftuch ist für Sie also Symbol der Unterdrückung?

Das Kopftuch wird seit der Kopftuchdebatte vielfach zweckentfremdet und instrumentalisiert. Es ist wie ein Kampfmittel geworden. Der Islam hat auch deshalb ein katastrophales Image, und bis dahin hätte es nicht kommen dürfen.

Wie gehen die muslimischen Organisationen mit Ihnen um?

Ich werde gemieden. Das ist komisch, weil es aus meiner Sicht ja keine Konflikte gibt. Die muslimische Gemeinschaft scheint nicht bereit für diesen Dialog. Sie wird es nie sein, vermute ich, wenn nichts Großes passiert. In dem Punkt habe ich aber wenig Hoffnung, weil meistens politisch engagierte Muslime ideologisch fundierte Schwerpunktpolitik machen – sie benutzen dann die Frauen als ihr Aushängeschild, und deren Kopftücher als Fahne. Darüber werden dahinterliegende Probleme wie die häusliche Gewalt an Frauen oder die zunehmende Radikalisierung von Jugendlichen vergessen. Lasst doch mal die Frauen in Ruhe! Es gäbe so viel, was zu debattieren wäre. Wenn das doch mal beginnen würde.

Liegt das nicht auch an der Mehrheitsgesellschaft, die die Debatte nicht sucht?

Nein, ich glaube das ist keine Ignoranz, sondern Desinteresse und mangelndes Wissen. Dadurch, dass die Muslime aber eine große Minderheit sind, müssen diese Dinge aber mal auf den Tisch gelegt werden. Wir brauchen einen runden Tisch der heiklen Debatten.

Welche Wirkung hat eine Lehrerin, die Kopftuch trägt?

Ich habe selbst eine Schwiegertochter, die als Lehrerin mit ihrem Kopftuch arbeitet. Ich bin froh darüber, dass sie ihrer Arbeit nachgehen kann! Sie genießt Akzeptanz. Es gab schon vor der politischen Debatte um das Kopftuch Lehrerinnen, die mit Kopftuch arbeiteten, und niemand regte sich darüber auf. Aber heute sieht das alles anders aus, viel kritischer sowohl für die betroffenen Frauen, aber auch für die Schüler. Die Schulleitung muss ein Auge darauf haben, ob die Lehrkraft missionarische Tendenzen hat und den muslimischen Schülerinnen das Gefühl vermittelt, dass eine Frau mit Kopftuch besser sei als eine, die keines trägt.

Wie, glauben Sie, wird die Lage in zehn Jahren sein?

Ich hoffe, wir werden es schaffen, in den kommenden Jahren alle Beteiligten dazu zu bringen, sich sachlich und modern mit diesem religiös begründeten Thema auseinanderzusetzen. Das wäre die einzige Möglichkeit, um eine noch größere Spaltung zwischen praktizierenden Muslimen und unseren Mehrheitsgesellschaften zu vermeiden.

Zur Person: Kämpferin gegen den Zwang

Emel Zeynelabidin wurde 1960 in Istanbul geboren und wuchs in Deutschland auf. Sie ist die Tochter des Gründers der deutschen Sektion von Milli Görüs – die türkisch- islamische Gemeinschaft ist heute eine der bedeutendsten muslimischen Vereinigungen Deutschlands, wegen islamistischer Tendenzen ist Milli Görüs aber nicht unumstritten.

Nach dem Abitur heiratete Zeyenlabidin und bekam sechs Kinder. Zudem engagierte sie sich ehrenamtlich im Islamischen Frauenverein, war eine Mit- gründerin des ersten islamischen Kindergartens in Deutschland. Vor zehn Jahren traf sie den Entschluss, ihr Kopftuch abzulegen, das mediale Echo war groß. Für ihr Engagement für Gleichberechtigung wurde sie ausgezeichnet.

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