Coronavirus: Politologin erwartet Brexit-Übergangsphase bis 2022

Der britische Premier Boris Johnson
Die nach jetzigem Stand am 31. Dezember endende Übergangsphase kann einmal um ein oder zwei Jahre verlängert werden.

Die Coronavirus-bedingte Ausnahmesituation könnte sich auch auf die Gespräche zwischen der EU und Großbritannien über die künftigen Beziehungen auswirken - und zwar nicht nur in praktischer, sondern in ganz grundsätzlicher Weise: Die Politologin Melanie Sully geht davon aus, dass die Brexit-Übergangsphase bis 2022 verlängert wird, auch wenn Premier Boris Johnson das bisher vehement abgelehnt hat.

Zuletzt habe der konservative Regierungschef eine mögliche Ausdehnung der Ende dieses Jahres ablaufenden Periode auch nicht mehr komplett verneint, sondern erklärt, dass er nichts ausschließe, sagte die Expertin im Gespräch mit der APA. "Man sieht also, dass die Downing Street (Regierungssitz in London, Anm.) das überdenkt, und ich glaube, sie würden da gerne auf eine geschickte und elegante Art herauskommen."

"Man kann nicht alles über Videokonferenzen machen"

An richtige Verhandlungen sei im Moment ohnehin nicht zu denken, und: "Man kann nicht alles über Videokonferenzen machen. Viele dieser Verhandlungen finden auf den Korridoren oder in den Kaffeepausen statt", gab Sully zu bedenken. Im vergangenen Jahr etwa, als die Brexit-Verhandlungen völlig festgesteckt seien, habe erst ein persönliches Treffen zwischen dem irischen Premier Leo Varadkar und seinem Amtskollegen Johnson hinter verschlossenen Türen Bewegung in die Sache gebracht. "Diplomatie muss auf einer persönlichen Ebene funktionieren, und wenn das nicht möglich ist, weil überall Barrieren aufgebaut werden und Leute krank werden, dann geschieht das nicht."

Die nach jetzigem Stand am 31. Dezember endende Übergangsphase kann einmal um ein oder zwei Jahre verlängert werden - "und es wird einen Antrag geben, sie bis Ende 2022 zu verlängern", erwartet die Politologin. Sie begründet dies vor allem mit der Unsicherheit der Lage: "Niemand weiß, wo wir in einem Jahr stehen werden, ob wir besser dran sein werden oder es eine zweite Welle des Virus geben könnte."

Das Coronavirus könnte somit zu etwas bisher fast Undenkbarem im Brexit-Prozess geführt haben: "Alle Optionen sind jetzt offen. Der Wahlsieg von Johnson ist von diesem Virus wirklich schwer getroffen worden", sagte Sully. Denn der Premier habe eigentlich "das fantastische Jahr nach dem Brexit" in den Mittelpunkt stellen wollen, das Pfund sei nach der Dezember-Wahl stark gewesen, "und das alles hat sich jetzt in Luft aufgelöst". Johnsons einziger Trost sei, "dass die EU-Mitgliedstaaten auch kämpfen, aber das könnte sich ändern, das hängt von der Koordination in der EU ab". Die Corona-Krise sei letztlich für alle Politiker eine große Herausforderung und ein Test.

Kritik an Johnsons Handeln in Sachen Corona

Zuletzt hat es in Großbritannien Kritik am Vorgehen des Premiers gegeben, dessen Regierung viele Maßnahmen im Kampf gegen das Coronavirus später setzte als viele Länder in Kontinentaleuropa. Manche hätten etwa das Gefühl gehabt, dass die Regierung erst dann reagiere, wenn es um London gehe. "Das ist auch schon früher in diesem Jahr bei den Überflutungen passiert", sagte Sully. Johnson sei nicht in die betroffenen Regionen im Norden Englands gefahren, "und die Leute haben gesagt, wenn es in London oder im Südosten Überschwemmungen gäbe, dann hätte man etwas unternommen". Ein derartiger Eindruck könnte dem Premier, dessen deutlicher Wahlsieg im Dezember sich auch auf frühere Labour-Stimmen aus Nordengland stützte, bei künftigen Voten freilich schaden.

Überhaupt zeige die derzeitige Situation "die Schwächen in der Sozialpolitik vorangegangener konservativer Regierungen auf", sagte die Politologin. Das gelte etwa im Hinblick auf das Gesundheitssystem, das von konservativen Regierungen "unterfinanziert" worden sei. "Wenn die Krise so weitergeht, werden sie mehr Polizei brauchen, und sie haben Polizisten von der Straße genommen." Ein weiterer Aspekt seien die Gefängnisse, wo es zu Revolten kommen könnte und möglicherweise Insassen vorzeitig entlassen werden müssten. "Es legt die Schwächen konservativer Politik zur falschen Zeit offen."

Derzeit höre man Spekulationen, dass es angesichts der möglicherweise desaströsen Folgen der Pandemie früher oder später eine Art "Regierung der nationalen Einheit" in Großbritannien geben könnte. Anfang April soll der neue Labour-Parteichef feststehen, und das werde wahrscheinlich Keir Starmer sein, "ein sehr konstruktiver Politiker", sagte Sully. Wenn es Johnson gelinge, die Vorsitzenden anderer Parteien in die Regierungskonsultationen und die Entscheidungsfindung einzubeziehen, dann wäre das auch "ein guter Weg, die Verantwortung zu teilen, wenn die Dinge schiefgehen", meinte sie. Und vielleicht eine Möglichkeit, den Schwenk in Sachen Verlängerung der Brexit-Übergangsphase zu erklären.

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