Klingt wie ein Märchen. In Wahrheit ist China eine von der kommunistischen Partei autoritär regierte Diktatur mit kapitalistischem Anstrich dort, wo’s für die Zufriedenheit der Massen (und der Eliten) notwendig ist. Eine, in der Kontrolle alles ist. Man weiß in Peking vom Beispiel Sowjetunion nur zu gut, wie schnell ein kommunistisches System bei zu viel Glasnost und Perestroika (Offenheit und Umgestaltung) untergehen kann.
Die chinesische Führung überlässt nichts dem Zufall, kontrolliert ihre Untertanen, die sie als solche sieht, bis in die Schlafzimmer, versucht zu normieren, was gesprochen, gepostet, gedacht werden darf – „Erziehungsdiktatur“ hat das Raimund Löw, langjähriger ORF-Korrespondent in Peking, genannt.Dann passiert Corona. Und nichts ist mehr unter Kontrolle. Erstmals auch nicht die Kritik am System.
Oder anders: Der Ausbruch bzw. die verheerende Verbreitung des Virus hat das System nicht nur überfordert, sie hat ursächlich mit dem System zu tun. Der tragische Fall des jungen „Whistleblower-Arztes“ Li Wenliang, einer der Entdecker des Virus, der im Dezember vor der Epidemie warnte und zum Schweigen verdonnert wurde, zeigt das ganze Ausmaß des System-Debakels. KP-Funktionäre und Beamte, so belegten Recherchen der New York Times, spielten aus Angst vor Vorgesetzten und Repression die Gefahren der Erkrankung herunter. Als das nicht mehr ging, wurden Fehler eingestanden und die Verantwortung – nur weg von der Führung und dem allmächtigen weisen Führer Xi Jinping – auf lokale Behörden gewälzt. Wie etwa auf den Bürgermeister von Wuhan.
Der tat Ungewöhnliches und ging seinerseits mit Kritik an den Behörden an die Öffentlichkeit: Ihm seien in Sachen Warnung und Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus die Hände gebunden gewesen. Und seit dem Tod des Corona-Arztes Li Wenliang überschlagen sich die Bekundungen und heftigen Anklagen in den sozialen Medien in China.
Was macht das mit dem „System China“ und seiner Führung? „Das ist eine ganz schwierige Situation“, sagt Susanne Weigelin-Schwiedrzik, Professorin für Ostasienwissenschaften an der Uni Wien. Auf der ganzen Welt seien Staatsführungen bemüht, die Bevölkerung zu überzeugen, dass man alles im Griff habe, „weil befürchtet wird, dass über Social Media sich eine Hysterie mit ungeahnten Folgen ausbreiten könnte“. Chinas Führung stehe aber unter besonderem Druck: Weil sie aufgrund ihrer Kontroll-Einschüchterung der Bevölkerung nicht genau wisse, wie weit die Menschen hinter ihr stehen; und weil das System anfällig sei für Legitimationskrisen – „die Leute sagen ,Wir ertragen alles, aber wenn der Staat uns nicht einmal gegen den schlimmsten Unbill schützen kann...’“.
Auf Social Media werde dann getrauert, zur Hälfte aus Anteilnahme für den Arzt, die andere Hälfte mache ihrem Unmut Luft, „seht her, die Regierung verfolgte diesen Mann“. Die Zensur wird versucht, aber man komme kaum nach. „Weil die Kontrollmechanismen in China sind nicht so erfinderisch, wie die Menschen, die Social Media benutzen“, sagt Weigelin-Schwiedrzik.
Die Corona-Krise sei jedenfalls ein weiterer Tropfen im Fass der Unzufriedenheit, das irgendwann vielleicht überlaufe. Das passiere dann aber nicht in Form eines Volksaufstandes, sondern eher in Form von Verwerfungen innerhalb der Elite, die jetzt schon da seien. „Auch die Sowjetunion ist nicht durch einen Volksaufstand, sondern durch Verwerfungen innerhalb der Elite zusammengebrochen.“
Kommentare