So wehrt sich Chicago gegen Trumps "Belagerung" durch ICE und Militär

Jim Slivovsky, Immobilienmakler mit slowakischen Wurzeln und einem sympathischen Schalk im Gesicht, kommt seit drei Wochen jeden Nachmittag von vier bis sechs Uhr an dieselbe Straßenecke. 1930 Beach Street, Broadview – ein Vorort von Chicago.
Vor ihm erhebt sich ein mit Metallzäunen und Betonbarrikaden abgeschirmter Gebäudekomplex: Das Internierungslager für Abschiebehäftlinge der US-Einwanderungspolizei ICE. Durch Videos von maskierten, prügelnden, Pfefferspray sprühenden ICE-Agenten hat es das Lager in die Weltnachrichten geschafft. Niemand weiß genau, wie viele Menschen dort festgehalten werden und warum.
An diesem sonnig-klaren Donnerstag steht Slivovsky hier mit seinem Lieblingsplakat am Straßenrand. Darauf steht: "Das ist nicht normal."

Jim Slivovsky (rechts) mit Mitstreitern in Broadview, Chicago.
Der 62-Jährige und seine beiden Mitstreiter ermuntern die vorbeifahrenden Autofahrer zum Hupen, wenn sie für "Einwanderung und Rechtsstaatlichkeit" sind. Slivovsky, ein Anhänger des früheren demokratischen Präsidentschaftskandidaten Bernie Sanders, hält es für seine staatsbürgerliche Pflicht, zu protestieren. Gegen den "Overkill" an Sicherheitsorganen, die sich seit Wochen in diesem gesichtslosen Industriegebiet gegenseitig auf den Füßen stehen. Und das nur, "weil Donald Trump es so will", sagt er.
Der Präsident, so Slivovsky, lüge "wie verrückt", wenn er behauptet, Chicago befinde sich im Würgegriff der Antifa, die unter Duldung der demokratischen Verantwortlichen in Stadt und Bundesstaat gegen Washington aufbegehre.
“Es gibt hier keine Rebellion und es gab nie eine”, sagt Slivovsky ernst. Kurz wird sein Gesicht rot vor Wut. “Trump missbraucht unsere Soldaten als politische Requisiten in seinem illegalen Bestreben, das Land gegen Andersdenkende zu militarisieren.”
Gerichtsurteil: Trump muss Nationalgarde abziehen
Kurz bevor die von Broadview-Bürgermeisterin Katrina Thompson verhängte Ausgangssperre um 18.00 Uhr einsetzt, darf sich Jim Slivovsky bestätigt fühlen. Eine Eilmeldung erreicht die gut drei Dutzend Demonstranten - und fast ebenso vielen Fernsehteams: Bezirksrichterin April Perry hat in ihrem Sinne entschieden und Präsident Trump eine herbe Niederlage zugefügt.

Vor dem ICE-Internierungszentrum in Broadview kam es bereits zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Nationalgarde.
Ihr Urteil: Die 500 Nationalgardisten aus Illinois und Texas, die auf Trumps Drängen das ICE-Lager sichern und den dortigen Agenten beim Aufgreifen illegaler Einwanderer Flankenschutz geben sollten, dürfen bis mindestens Ende Oktober nicht eingesetzt werden.
Den Befund der Regierung, ein „linker Aufstand“ gefährde den Staat Illinois, ließ die Richterin nicht gelten. “Ich habe keine glaubwürdigen Beweise dafür gesehen, dass in Illinois die Gefahr einer Rebellion besteht. Ich bin der Meinung, dass die Entsendung der Nationalgarde nur Öl ins Feuer gießen würde.”
Priester von ICE-Agenten mit Pfefferkugeln beschossen
Es bleibt nicht die einzige Schlappe des Weißen Hauses an diesem Tag. Andere Richter ordnen an, dass ICE-Agenten künftig Dienstmarken tragen – und bei Einsätzen gegen friedliche Demonstranten oder Journalisten, die zuletzt mehrfach attackiert worden waren, auf Gewalt verzichten müssen.

Das Internierungslager für Abschiebehäftlinge der US-Einwanderungspolizei ICE. Niemand weiß genau, wie viele Menschen dort festgehalten werden und warum.
Das Urteil ist auch vom Fall des Priesters David Black inspiriert, der im September friedlich vor dem ICE-Gebäude demonstrierte und von Agenten mit Pfefferkugeln beschossen wurde. Der daraufhin errichtete 2,50 Meter hohe Metallzaun rund um das Internierungslager muss wieder abgebaut werden.
"Ich erkenne mein Land nicht wieder"
Die 77-jährige Chris Klepper, langjährige Aktivistin der Bürgerrechtsbewegung in den 60er Jahren, protestiert ebenfalls seit Wochen in Broadview. Als sie von den “guten Nachrichten” erfährt, bekommt sie fast feuchte Augen. Die “autoritäre Übernahme” der USA durch Trump in nur neun Monaten mache ihr schwer zu schaffen, sagt sie. “Ich erkenne mein Land nicht wieder.”
Sie berichtet, dass schon seit Donnerstagmorgen rund 50 der 200 auf Trumps Geheiß aus Texas ausgeliehenen Soldaten auf dem ICE-Gelände zu sehen waren. Ein gedrungenes Gebäude mit einer amerikanischen Flagge davor. Fenster und Türen sind vernagelt. Niemand kann hineinsehen.
Trump, sagt Klepper, sei “förmlich heiß darauf”, seine maskierten Beamten gegen “nicht existierende Aufstände” einzusetzen und, wie er sagt, das “Höllenloch Chicago” zu befrieden. “Das ist eine Versündigung der Demokratie, gegen die wir aufstehen müssen.”
Es gibt auch Amerikaner, die Trumps Vorgehen gut finden
Ali Wiegand sieht das ganz anders. Die 45-Jährige ist vor der Sperrzone des ICE-Gebäudes eine Ausnahme-Erscheinung - und ein „enfant terrible”. Auf ihrem Schild steht: “We love ICE.” Mit linken Gegendemonstranten, deren Pappschilder “ICE = Gestapo” zeigen, liefert sie sich erbitterte Wortgefechte. Oft schreit sie dabei. “Trump tut das Richtige”, etwa. Amerika gehe sonst “vor die Hunde”.

Joe Amore, ein Veteran mit deutschen Wurzeln, muss sich zurückhalten, wenn er Leute wie Wiegand vor der Nase hat. Er und andere Demonstranten berichten von Skandalen, die auf “rücksichtsloses Verhalten“ der Einwanderungspolizei zurückgingen.
Ein drastisches Beispiel: 300 ICE-Beamte stürmten unlängst ein Wohnhaus an der South Shore in Chicago. Black-Hawk-Helikopter kreisten über dem Schauplatz, Polizisten seilten sich ab. Später brachen Agenten in Militärkleidung in Wohnungen ein und fesselten Bewohner mit Kabelbindern – Kinder wie Alte, unabhängig von ihrer Staatsbürgerschaft.
Illinois-Gouverneur J. B. Pritzker und Chicagos Bürgermeister Brandon Johnson, beides Demokraten, über die Trump bereits sagte, er würde sie gern ins Gefängnis stecken, begrüßen die Gerichtsentscheidungen als “wichtiges Signal der Hoffnung”.
Die von Trump betriebene Militarisierung der drittgrößten Metropole der USA müsse ein Ende haben. Ebenso wie das völlig neue Vorgehen, gegen den Willen des einen Bundesstaats (Illinois) Soldaten eines anderen Bundesstaats (Texas) anzuheuern. Selbst Oklahomas republikanischer Gouverneur Kevin Stitt schloss sich dieser Kritik an.
"... dann könnte das Pulverfass, auf dem wir sitzen, explodieren."
Als der Protestabend zu Ende geht, ballt Jim Slivovsky mit einem breiten Lächeln die Siegerfaust. Chris Klepper, die erfahrene Anti-ICE-Demonstrantin, bleibt vorsichtiger. Trump werde die Niederlagen nicht geräuschlos akzeptieren, sagt sie.
Viele hier befürchten, dass der Präsident versuchen könnte, die Justiz zu übergehen und das Aufstands-Gesetz von 1807 – den Insurrection Act – zu aktivieren. Dann könnte er die Nationalgarde womöglich doch noch auf die Straße bringen. Dann, so Klepper, “könnte das Pulverfass, auf dem wir sitzen, explodieren.”
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