Brexit-Showdown in Landresidenz
Zu den speziellen Privilegien des britischen Premierministeramts gehört die Benützung von Chequers, einer Palast-artigen Landresidenz im beschaulichen Buckinghamshire. Die schöne Aussicht ist auch vonnöten, sind es doch oft die kniffligsten Anlässe, wegen derer man dort Zuflucht vor dem Trubel von Westminster sucht. Winston Churchill etwa sprach während des Krieges von Chequers aus per Rundfunk dem Volk Mut zu. Der Brexit, häufig als die größte politische Herausforderung des Landes seit 1945 bezeichnet, soll das im 16. Jahrhundert erbaute Gemäuer heute nun erneut zum Schauplatz eines nationalen Wendepunkts machen.
29 Regierungsmitglieder hat Theresa May dort heute zur Klausur geladen. Mehr als zwei Jahre nach dem Brexit-Referendum und knappe neun Monate vor dem Vollzug des EU-Austritts will sie ihr Kabinett endlich auf eine gemeinsame Linie zu den künftigen Handelsbeziehungen mit der EU festlegen. Angeblich wurden für die anreisenden Minister keine Betten bezogen.
„Fuck Business“
Angesichts der Vorzeichen scheint das reichlich optimistisch. Erst vergangenes Wochenende berichtete das Boulevard-Blatt The Sun, der Umweltminister und Brexit-Hardliner Michael Gove habe ein von Mays Büro zusammengestelltes Kompromisspapier wutschnaubend zerrissen. Jenem als „Facilitated Customs Arrangement“ bezeichneten Plan zufolge soll Großbritannien seine eigenen Zölle für nach Großbritannien eingeführte Güter einheben, bei für den Rest Europas bestimmten Gütern aber Teil der europäischen Zollunion bleiben. Nicht nur Stimmen aus Brüssel, sondern auch Mays eigener EU-Austrittsminister David Davis haben diese Idee bereits als „undurchführbar“ bezeichnet.
Außenminister Johnson wiederum nützte vorige Woche ein privates Dinner, um gegenüber dem belgischen Botschafter Rudolf Huygelen seine Meinung zu den Sorgen einer verunsicherten Wirtschaft zu vermitteln: „Fuck Business“, soll er gesagt haben. Die Tatsache, dass auch dieser von Johnson nicht dementierte Ausritt folgenlos blieb, spricht Bände über Theresa Mays Machtlosigkeit in ihrem eigenen Kabinett.
Johnsons Verbündeter Jacob Rees-Mogg drohte indessen offen mit Mays Entmachtung, falls sie sich nicht an ihr persönliches Versprechen eines harten Brexit hielte. Der sich als Aristokrat der alten Schule stilisierende Abgeordnete zitierte zur Untermauerung sogar aus William Shakespeares Heinrich V.: „Dann ahmt dem Tiger nach in seinem Tun; spannt eure Sehnen, ruft das Blut herbei.“
Auf der einem sanften Brexit zugeneigten Gegenseite versammeln sich Kaliber wie der Staatssekretär für Europa und Amerika, Sir Alan Duncan, der Rees-Mogg wörtlich der „Unverfrorenheit“ bezichtigte, sowie Handelsminister Greg Clark, der sich – entgegen der Premierministerin – offen für ein Weiterbestehen der Bewegungsfreiheit aussprach.
Jaguar warnt
Finanzminister Philip Hammond wiederum hat angekündigt, die versammelten Minister mit einem Vortrag düsterer Prognosen im Falle eines harten Brexit aus den Wolken ihrer Brexit-Träume zu holen. Gestern kam ihm dabei mit Jaguar Land Rover eine ikonenhafte, wenngleich zum indischen Tata-Konzern gehörende Marke der britischen Autoindustrie zu Hilfe. Vorstandschef Ralf Speth warnte, dass ein schlechter Brexit-Deal seine Firma rund 1,4 Milliarden Euro pro Jahr kosten würde. Ein Abwanderung steht im Raum. Zuvor hatten auch BMW und der Airbus-Konzern, der in Großbritannien Flügel herstellt, die Zukunft ihrer britischen Werke in Frage gestellt, falls die für die „Just in time“-Fertigung ihrer Produkte reibungslose Verschiffung von Produktionsteilen vom bzw. zum Kontinent nicht mehr gewährleistet sei.
Gesundheitsminister Jeremy Hunt, der neuerdings auch Ambitionen auf die Nachfolge Theresa Mays erkennen lässt, wies daraufhin den europäischen Flugzeughersteller an, sich „in diesem kritischen Moment der Verhandlungen hinter die Premierministerin zu stellen“. Ein solcher Ton macht verständlich, warum ein anonym bleibender hochrangiger Vertreter der britischen Wirtschaftswelt gegenüber der BBC vorausblickend auf den Chequers-Gipfel von einem „Alice in Wonderland-Treffen ökonomischer Fantasien“ sprach.
Für die Labour-Opposition wäre nun der Weg frei, sich mit einer besonnenen wirtschaftsfreundlichen Linie als Alternative zu profilieren. Aber ihr instinktiv euroskeptischer Parteichef Jeremy Corbyn zog es vor, in der letzten Parlamentssitzung vor der Klausur in Chequers über überhöhte Bus-Ticket-Preise zu sprechen. Nachdem in London vor knapp zwei Wochen mehr als 100.000 Menschen für ein zweites Referendum demonstrierten und dabei lautstark „Wo ist Jeremy Corbyn?“ riefen, droht diesem nun seine gerade gewonnene Brexit-feindliche junge Anhängerschaft davonzulaufen.
Skurrile Allianz
Indes hat die Ausnahmesituation eine neuen, einigermaßen skurrilen Schulterschluss hervorgebracht: Die Gewerkschaften planen eine Abstimmung unter ihren Mitgliedern über einen Verbleib im europäischen Binnenmarkt, deren Ergebnis den Labour-Chef stark unter Druck bringen könnte. Sie befinden sich dabei im Einklang mit ihren Erzfeinden des britischen Industriellenverbandes CBI.
Bloß einen Umstand scheint die britische Öffentlichkeit unter all dem Trubel zu vergessen: Was immer die 29 Minister in Chequers entscheiden, auch die 27 anderen EU-Staaten müssen damit einverstanden sein. Mit jedem verstrichenen Tag wird ein Fall der britischen Wirtschaft über die Klippen von Dover ins regulative Chaos eines No-Deal-Szenarios um ein Stückchen wahrscheinlicher.
- Robert Rotifer, London
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