Brasilien – ein Lebensgefühl

Brasilien, Rio de Janeiro, Johannes Schmidt

Teil 6: Ein Mega-Land zwischen Euphorie und Protest, Armut und Reichtum, ausgelassenen Feiern und beinharter Arbeit. Vier Österreicher zeigen sich beeindruckt.

Brasilien – ein Lebensgefühl
Wenn der Wiener Informatiker Johannes Schmidt in der Früh von seiner Wohnung in Rio de Janeiro zur Arbeit auf die Uni im Norden der Stadt fährt, kann das eine halbe Stunde dauern.

Es kann aber auch zwei Stunden dauern. "Die U-Bahn ist durchaus komfortabel, pünktlich und auch nicht überfüllt", erzählt Schmidt. "Der Bus hingegen ist völlig unberechenbar. Manchmal fährt er bei der Haltestelle einfach weiter. Und selbst wenn er stehen bleibt, ist nicht sicher, ob man mit allen anderen Wartenden hineinkommt."

Die Busfahrt selbst – eine Achterbahnfahrt: "Wer sich in der Kurve nicht mit beiden Händen festhalten kann, auf den wirkt das Trägheitsgesetz. Busfahrer lieben es, sich mit ihren Kollegen ein Rennen zu liefern. Kilometerlange Überholmanöver sind keine Seltenheit."

Schmidt kam vor 14 Jahren nach Brasilien, um hier seinen Zivildienst abzuleisten. "Seither lassen mich das Land, seine Kultur und die Leute nicht mehr los." Nach mehreren Urlauben ist er seit Jänner 2014 wieder für länger hier: als Post-Doc an der staatlichen Universität.

Der Informatiker kennt inzwischen den feinen Unterschied. Rio mit den Augen des Touristen: Das ist viel Fröhlichkeit, viel buntes Treiben im öffentlichen Raum. Rio aus der Sicht der Bewohner: Das kann mitunter mühsam werden.

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Bitte gut festhalten! Der Busfahrer legt sich ins Zeug, vor allem aber in die Kurven.
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Fahrgäste am Heimweg nach einer Party
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Auch die U-Bahn fährt zum Maracana Stadion.
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Seine Freundin, die Radiojournalistin Ulla Ebner, berichtet derzeit für den ORF aus und über das Austragungsland der Fußball-WM. Die sozialen Unterschiede im Land bringt sie so auf den Punkt: "Für unsere 50--Wohnung zahlen wir 1000 Euro Miete. Das ist für die meisten Brasilianer unerschwinglich."

Ebner erzählt von einem Bekannten, der als Psychotherapeut arbeitet. Sein Einkommen reicht bei Weitem nicht aus, um sich seine Mini-Wohnung zu leisten. "Daher gibt er zusätzlich Musikstunden."

Depressionen? Nein! Trotz der ökonomischen Zwänge wären die Menschen in Brasilien besser gelaunt als ihre Landsleute in Österreich: "Vielleicht mit Ausnahme der Kassiererinnen im Supermarkt und der Ober im Kaffeehaus. Das Klischee, dass viel gefeiert wird, ist auch nicht ganz falsch."

Ihre Recherchen haben die Reporterin auch in die von der Polizei pazifizierten Favelas geführt. Ihr Eindruck: "Dort leben viele Menschen der unteren Mittelschicht. In gemauerten Häusern. Einige besitzen sogar ein Auto und eine Waschmaschine." Viele fürchten sich vor weiteren staatlichen Eingriffen. "Weil dann horrend hohe Stromkosten zu bezahlen wären."

Angetan zeigt sich Ebner von der Bolsa Familia. Das ist Familienbeihilfe auf brasilianisch. Damit konnte in den vergangenen zehn Jahren das Überleben von rund 40 Millionen Menschen gesichert werden. Der staatliche Mini-Zuschuss ist an Auflagen geknüpft: Wer seine Kinder nicht in die Schule und nicht zur Gesundenuntersuchung schickt, verliert sofort den Anspruch darauf.

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Brasilien – ein Lebensgefühl
Viel durchs Land reist der Amstettener Markus Schruf. Er kam im März 2009 in den Bundesstaat São Paulo, damals als Fußballtrainer für Red Bull. Im Frühjahr hat Schruf – in Österreich weitgehend unbeachtet – erfolgreich das drittbeste Profiteam in Rio de Janeiro als Manager und Co-Trainer betreut.

Sein Kerngeschäft ist jedoch ein sozialökonomisches Projekt: Gemeinsam mit verdienten brasilianischen Ex-Fußballern und Trainern hat Schruf eine landesweit aktive Akademie gegründet. Die kooperiert mit 24 Fußballschulen (Escolinhas), die übers Land verteilt sind und die er auch regelmäßig besucht. "Ziel ist es, die Jungen von der Straße wegzuholen. Sie bekommen bei uns neben einer sportlichen Ausbildung Essen, Unterkunft und einen Schulplatz."

Motivation zu lernen für alle: "Die Besten der Besten können bei uns den Sprung in das Profigeschäft schaffen. Wir unterstützen sie auf diesem schwierigen Weg."

Anhaltend fasziniert den Österreicher die enorme Zielstrebigkeit und Willenskraft der jungen Brasilianer: "Die Motivation ist hoch, weil es viele Konkurrenten gibt. Viele wollen aufsteigen." Schruf erzählt von jungen Profifußballern, die nebenbei studieren und gleichzeitig noch einen zweiten Beruf ausüben.

Fast unerschöpflich das Talente-Reservoir: "Das ist, wie wenn du in Österreich gute Skifahrer suchst. An jeder Ecke ein Rohdiamant." Mit dem Unterschied, dass Fußball eine echte Weltsportart ist.

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Markus Schruf mit einer Fußballschule in Santos
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"Die Motivation ist hoch, weil es viele Konkurrenten gibt. Viele wollen aufsteigen."

Trotz seines Ergriffenseins für den brasilianischen Fußball verschließt Schruf nicht die Augen vor der sozialen Ungerechtigkeit im Land: "Die Einkommensverteilung ist absolut ungerechnet. In den Städten leben die Super-Reichen neben den Super-Armen." Grundrecht auf Bildung, wie es in Europa Standard ist, kennt man hier nicht. So sieht man auf der einen Seite eine hoch motivierte, gut ausgebildete junge Elite, die nach oben strebt. Und daneben das Heer der Armen und Bildungsfernen, das keinerlei Aufstiegschancen besitzt.

So vielfältig die Natur, so vielfältig auch die Menschen und Kulturen. Zwischen dem Nordosten, wo das Leben noch deutlich langsamer abläuft, und dem Südwesten des Landes, wo es in den Städten alles gibt, was es auch in Europa gibt, liegen nicht nur 4000 Kilometer, sondern tun sich auch Welten in den Mentalitäten der Menschen auf.

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Schrufs Lebensgefährtin ist die Lehrerin Lydia Schneeberger. Sie hat in São Paulo eine Sprachschule aufgebaut. Und wundert sich: "Die Brasilianer arbeiten länger als wir. Da geht selten jemand vor halb neun am Abend aus dem Büro. Und dennoch ist es für viele extrem eng. Es gibt keine staatliche Krankenversicherung. Und eine gute Schule kostet 700 Euro pro Monat."

Der tägliche Überlebenskampf: "Die, die weniger verdienen, wohnen weit außerhalb der Stadt. Daher fahren sie in der Früh mit dem Bus zwei Stunden zur Arbeit – und am Abend zwei Stunden nach Hause." Akademiker, die weniger als 1000 Euro verdienen: "Keine Ausnahme."

Wer es sich leisten kann, fliegt, bevor ein Kind zur Welt kommt, kurz mal rauf in die USA: "Dort wird alles Notwendige für das Kind eingekauft. Und wenn man dann noch drei Tage Urlaub dranhängt, kommt das noch immer billiger als wenn man die Sachen in Brasilien kauft."

Keine Saga sei die brasilianische Gastfreundschaft. Die Sprachlehrerin erzählt von einer Schülerin, die sie "einfach so" in ihr Haus am Meer eingeladen hat. Auch die Stimmung der Leute sei meist gut: "Das liegt wohl auch am Wetter. Wiener Wetter haben wir hier maximal zwei Tage pro Jahr. Wenn es einmal regnet, kommt nach kurzer Zeit wieder die Sonne hervor."

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Leben in Brasilien:
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Die Sonne macht gute Laune.
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Die Gastfreundschaft ebenso.

Am Abend ist dann der Informatiker Johannes Schmidt auf dem Nachhauseweg. Zurück von der Uni zur Metro ist es nun einen Kinderspiel.

"Da gibt es einen Kleinbus mit garantiertem Sitzplatz und sehr freundlichem Cobrador. Das ist der Mann, der an der Haltestelle die Leute zusammensammelt, damit der Bus so schnell wie möglich voll wird. Der kennt mich schon, begrüßt mich mit Handschlag und wünscht uns allen beim Wegfahren einen guten Abend und einen guten Schlaf. Wer aussteigen will, ruft einfach quer durch den Bus zum Fahrer nach vorne, und bezahlt dann beim Aussteigen."

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Oi, Brasil!

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