"Auch ich will meine Freiheit!"

Motorrad- und Autofahren: Frauen in Saudi-Arabien bekommen endlich mehr Rechte
Lokalaugenschein im Land des Wahhabismus, das gerade eine neue Radikalität erlebt: den Wandel – gesteuert von Kronprinz Mohammed.

Die Frau sieht nicht aus wie eine geborene Revoluzzerin – und doch ist sie eine. Während unverändert aus dem Lautsprecher der bekannten "schwebenden Moschee" in der saudischen Hafenstadt Jeddah einer der fünf täglichen Rufe zum Gebet ertönt, plaudert Aisha S. lieber mit mir als zu beten: "Endlich", sagt sie. "Super!"

Die Augen der Frau leuchten – im konservativsten Land der Welt, bisher ein riesiges Gefängnis für die Hälfte der 32 Millionen Bewohner, die Frauen.

Neue Freiheit

Bei meinen bisherigen Reportagen war es unmöglich, mit jemandem wie Aisha zu sprechen, einer vollverschleierten Mutter von zwei Kindern. Frauen redeten nicht, sondern wandten den Kopf zu ihrem Ehemann, der mir an ihrer Stelle ausführlich antwortete.

Jetzt spazieren Frauen wie Aisha ungeniert auf mich zu. Sogar die gefürchtete Religionspolizei, früher gleich zur Stelle, beobachtet nur diskret aus der Ferne – obwohl eigentlich gerade Gebetsstunde ist. Nun aber strömen die anderen in die Moschee. Aisha bleibt.

Sie erzählt, sie trug bis vor wenigen Tagen den üblichen Schleier vor dem Gesicht, Niqab genannt, der normalerweise zur Ausstattung der konservativen Frauen dazugehört wie Handschuhe oder der männliche Begleiter.

Sie hat den Gesichtsschleier, meint sie, zum ersten Mal in ihrem Leben probeweise abgelegt. Sie wollte zuerst testen, wie so etwas draußen aufgenommen wird. Sie wurde nicht verhaftet, also blieb sie dabei: "Auch ich will meine Freiheit", meint sie frech, als wäre sie noch lange nicht am Ende ihres persönlichen Aufstandes gegen die jahrzehntelangen strengen Kleidervorschriften für Frauen angelangt.

Sie verfolgt auf ihrem Handy jede Nachricht über Reformen, die Ankündigung, dass erstmals Kinos im Königreich eröffnet werden, gleich 30. Sie weiß schon vom neuen Recht der Frauen, in Fußballstadien anwesend zu sein, öffentlich Sport machen zu dürfen, selbst wenn mit Kopftuch und Trainingsanzug.

"Glasnost"

Einige Hundert Meter weiter an der neu ausgebauten Corniche treffe ich Pärchen. Sobald die Sonne untergeht, spaziert da ohnehin das ganze verheiratete Jeddah, aber derzeit ist es noch eine eintönige Schar. Die Ehefrauen sind – wie ich auch – weiter in die langen schwarzen Mäntel , die Abaja, gehüllt, obwohl ein religiöser Prediger Lockerungen bereits versprach. Doch irgendwie scheint jeder gelassener zu sein als früher. Saudi-Arabien erlebt eine Glasnost, wie sie die Welt seit Gorbatschow nicht mehr gesehen hat.

Frau am Steuer

Die größte Sensation: Ab Juni dürfen Frauen zum ersten Mal Auto fahren. Bei dieser Neuerung herrscht jedoch noch erstaunliche Unsicherheit. Nirgendwo entdecke ich eine Fahrschule. Die werden angeblich bald im Universitäts- Bereich eingerichtet.

In einem Autosalon treffe ich zwei Frauen, die sich bereits einen Wagen aussuchen; eine, um endlich ihre Kinder allein zur Schule zu bringen. In einem Land ohne öffentliche Verkehrsmittel eine Notwendigkeit. Fahrer zu beschäftigen, ist teuer.

Das Monatsgehalt eines pakistanischen Gastarbeiters und Chauffeurs beträgt zwischen 1000 und 2000 Euro. Diese Summe werden nun viele Familien der Mittelklasse einsparen können. Ärmere Familien wie die von Aisha regelten es bisher so, dass der Ehemann alle Fahrten erledigt. Die Frau wartet daheim.

Eine 34-jährige Designerin namens Rouba ist schon allein deshalb zurückhaltend in dieser Frage, weil sie am ersten Fahrtag im Juni ein totales Durcheinander fürchtet. Millionen Frauen plötzlich auf der Straße – das kann in ihren Augen nicht gut gehen. Daher bleibt sie lieber beim praktischen Uber- Fahrdienst, den Frauen ohnehin benutzen können.

Wichtiger für alle, ob Rouba oder Aisha, ist der eigene Job. Während meines Aufenthaltes in Saudi-Arabien schreiben die Zollbehörden zum ersten Mal Jobs für Frauen aus. Sie wollen 140 anstellen. Sie erhalten innerhalb kurzer Zeit 140.000 Anfragen von Bewerberinnen. Der Andrang zeigt, neben dem Hunger der Frauen nach Selbstständigkeit, den jahrzehntelangen Reformstau im Land.

Verjüngungskur

Der saudische Gorbatschow ist der junge Kronprinz Mohammed bin Salman, abgekürzt MBS genannt, ein Mann, der wie ein Superstar von Plakaten überall herunterblickt. Er hat dem Land eine radikale Verjüngungskur verschrieben. Unter dem Schlagwort "Vision 2030" verspricht er Ferien-Clubs zu eröffnen, Technik-Parks und von Robotern gemanagte Städte. Damit soll das Land ins 21. Jahrhundert katapultiert werden.

Im Hintergrund, beinahe unsichtbar, unterstützt König Salman den Kurs. Ohne ihn wäre das alles undenkbar. Er unterschreibt die königlichen Dekrete. König Salman war es, der MBS, seinen ältesten Sohn, vor einem Jahr mit seiner dritten Ehefrau zu seinem Nachfolger bestimmte. Allein damit hat er eine bisher nicht dagewesene Revolution im Königreich der alten Männer, zu denen er mit seinen 81 Jahren gehört, eingeleitet.

Der Kronprinz ist 32 Jahre, er wäre der jüngste Herrscher im Nahen Osten überhaupt – ein Vorteil in einem Land, in dem 70 Prozent der Bewohner unter 30 sind.

Allein die Massen an Jugendlichen sind Saudi-Arabiens Problem. Der seit Jahrzehnten von oben stillschweigend geduldete und geförderte radikale Wahhabismus, die offizielle Islam-Richtung, war für Teile der jungen Saudis oft das einzige Ventil, Frust loszuwerden. Tausende zogen in den Heiligen Krieg. Die Septemberanschläge 2001 in den USA wurden von jungen Saudis verübt.

Jetzt verspricht der Kronprinz einem "gemäßigten Islam". Noch aber beruht die Gesetzgebung auf der strengsten Auslegung der Scharia überhaupt.

Hinrichtungen

Am Eingang der malerischen Altstadt von Jeddah steht ein von allen im Vorbeifahren mit Furcht beäugtes weißes Gotteshaus. In dessen Hof finden Hinrichtungen statt. Seit Beginn des Jahres wurden, trotz Glasnost, laut Menschenrechtsorganisationen 20 Menschen mit dem Schwert hingerichtet – mehr als sonst wo auf der Welt.

MBS ist im relativ offenen Jeddah dabei beliebter als in der Hauptstadt Riad, einem Ort der unveränderlichen Stammes-Traditionen. Dort ließ MBS im vergangenen November um die 200 Mitglieder der saudischen Stammes- und Geld-Elite, eingeschlossen den Multi-Milliardär Walid Bin Taleed, im Luxushotel Ritz-Carlton unter Korruptionsverdacht festhalten.

Die meisten Zwangsgäste zahlten umgerechnet 50 Milliarden Euro an angeblichen Ausständen an den Staat zurück und kamen wieder frei. "Ich fürchte die Rache dieser Gruppe", sagt eine einheimische Journalistin mit guten Verbindungen. "Und wenn es Jahre dauert, sie vergessen nichts."

Das Vietnam der Saudis

In den bescheidenen Vororten von Jeddah hängen heute arbeitslose Jugendliche herum mit einer unbestimmten Zukunft. Die Staatskassen sind leer. Der Ölpreis zu tief. Preiserhöhungen sogar bei Benzin und die erste Einführung einer Mehrwertsteuer treffen alle.

Der Kronprinz führt trotz Schulden einen teuren Krieg im Nachbarland Jemen, schon "Saudi-Arabiens Vietnam" genannt.

Doch zumindest geht er im Eilzugstempo die tiefst greifenden Reformen im ganzen Nahen Osten an. Entweder das Land geht direkt den Weg ins Chaos. Oder das MBS-Experiment geht gut. Das wünschen ihm und sich jedenfalls seine treuesten Fans, Saudi-Arabiens Frauen.

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