Arbeiten bis 70? "Nicht jeder ist körperlich dazu in der Lage"

Katherina Reiche
Vollzeit statt Teilzeit arbeiten und später in Pension gehen, um das Sozialsystem zu retten? Nicht nur in Österreich, auch in Deutschland diskutiert die Politik einmal mehr über das alte Reizthema Arbeitszeit. Den neuen Anstoß in Berlin gab CDU-Wirtschaftsministerin Katherina Reiche, die kürzlich zur FAZ sagte: „Wir müssen mehr und länger arbeiten.“ Die Anreize für Frühpensionen müssten gestoppt, ein späteres Pensionsantrittsalter attraktiver gemacht werden.
Vergangenes Jahr hat sich der damalige FDP-Finanzminister Christian Lindner ähnlich geäußert. Auch der jetzige CDU-Bundeskanzler Friedrich Merz: „Mit Vier-Tage-Woche und Work-Life-Balance werden wir den Wohlstand dieses Landes nicht erhalten können“, sagte er zuletzt im Mai.
Im Kern geht es um dieselbe Frage wie in Österreich: Wie verhindert man den Zusammenbruch des Pensionssystems, wenn die Menschen doch älter werden und gleichzeitig weniger Kinder bekommen als früher, also langfristig gesehen weniger Personen in die Pensionskasse einzahlen?
Mit einem höheren Antrittsalter wird es in beiden Ländern schon allein aufgrund der aktuellen Regierungskoalitionen, in denen jeweils auch die Sozialdemokraten vertreten sind, in nächster Zeit schwierig. Die Rede ist hierbei oft vom „Arbeiten bis 70“, wie es etwa der Präsident der ÖVP-nahen Industriellenvereinigung, Georg Knill, fordert. Reiche hat diese Idee ebenfalls erwähnt.
"Nicht jeder ist körperlich in der Lage, bis 70 zu arbeiten"
Insgesamt haben neun OECD-Länder ihr Pensionsantrittsalter mittlerweile direkt an die Lebenserwartung geknüpft. Sie bewegen sich damit – wenn es auch noch Jahrzehnte dauert – tatsächlich auf die 70 Jahre zu. Stand jetzt würde Dänemark dieses Alter als Erstes erreichen, 2040. Das würde laut Pensionsexperte Andrew Reilly von der OECD zwar die finanziellen Belastungen für das Pensionssystem reduzieren. Es könne aber dann zu anderen Problemen, die wiederum staatliches Geld erfordern könnten, führen: „Nicht jeder, der fast 70 Jahre alt ist, ist körperlich in der Lage zu arbeiten.“ Menschen würden mit steigendem Alter etwa vergesslicher. Dazu kommt, dass Firmen auch tatsächlich in größerem Stile Ältere einstellen müssten.
Weder in Österreich noch in Deutschland steht die Pension ab 70 in den Koalitionsverträgen. Es dürfte auch bei den Nachbarn eher in Richtung von steuerlichen Begünstigungen gehen – für jene Menschen, die auch im Ruhestand noch weiterarbeiten. Die SPD plädiert zudem dafür, noch stärker auf den Zuzug von Fachkräften aus dem Ausland zu setzen.
Deutschland erhöht schon auf 67 Jahre
Der Status Quo ist aber unterschiedlich: Während das Pensionsantrittsalter in Österreich bei den Männern bei 65 Jahren liegt und bei den Frauen aktuell schrittweise bis 2033 auf das gleiche Alter herangehoben wird, geht es in Deutschland bereits bis 2031 für alle in Richtung der 67 Jahre. Schon jetzt liegt das tatsächliche Pensionsalter in beiden Ländern deutlich unter dem gesetzlichen. Deutschland altert etwas schneller als Österreich.
Die SPD kritisiert Reiches Vorstoß ähnlich scharf wie die SPÖ jenen von ÖVP-Wirtschaftsminister Wolfgang Hattmannsdorfer zur laufenden „Teilzeit-Debatte“. Laut ihm arbeiten zu viele Österreicher Teilzeit, weil Vollzeit sich nicht mehr auszahle bzw. gesunde Menschen ohne Betreuungspflichten nicht mehr genug arbeiten wollen würden. Sowohl Österreich als auch Deutschland zählen in Europa tatsächlich zu den „Teilzeit-Spitzenreitern“.
Die Diskussion darüber ist hie wie da jedoch eine komplizierte. Zahlreiche Faktoren spielen eine Rolle: Wie viele Menschen wollen eigentlich mehr arbeiten, bekommen vom Arbeitgeber aber nicht die Möglichkeiten oder haben niemanden, der auf die Kinder aufpasst? Welche Jobs stellen eine so große Belastung dar, dass mehr Arbeit kaum schaffbar ist, und was könnte man dagegen tun? Und wie fair wären negative Anreize wie weniger Sozialleistungen für Teilzeitarbeitende, wie sie etwa Hattmannsdorfers Vorgänger Kocher ins Spiel gebracht hatte, gerade in Hinblick auf die wegen der Teilzeitmöglichkeiten gestiegene Frauenbeschäftigung?
Auch aus den eigenen Reihen erfährt Reiche für ihre Äußerung Gegenwind. Ganz besonders der CDU-Sozialflügel CDA kritisierte sie scharf, dessen Bundesvize Christian Bäumler bezeichnete die Ministerin gar als „Fehlbesetzung“.
"Herbst der Sozialreformen"
Kanzler Merz stellte nun einen „Herbst der Sozialreformen“ in Aussicht, auch dem Pensionsproblem will man sich dabei widmen. Gleichzeitig sprachen Teile der CDU sich schon gegen die Renten-Pläne von SPD-Arbeitsministerin Bärbel Bas aus, wonach künftig auch Beamte, Abgeordnete und Selbstständige in die Rentenversicherung einzahlen sollen – wie auch in Österreich, das u. a. von der deutschen Linken schon länger als Beispiel hergenommen wird, wie man eine Rentenreform anlegen könnte. In Deutschland zahlen diese Gruppen derzeit in ein eigenes System ein.
Die OECD empfehle Deutschland ebenfalls, dies zu ändern, sagt Experte Reilley: „Es ist besser und fairer, wenn alle im selben System sind“. In den letzten 15 Jahren hätten über ein Dutzend Länder unterschiedliche Systeme dementsprechend angeglichen.
Auch was die Höhe der Pensionen angeht, blicken Deutsche gerne hoffnungsvoll nach Österreich, wo Pensionisten im Schnitt deutlich mehr Geld bekommen. Die Menschen zahlen hierzulande aber auch mehr ein, zudem ist die Demografie eine andere.
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