Das fatale Vakuum von Köln

1000 Täter? Oder noch mehr? Die Spekulationen überschlugen sich
Der Umgang mit dem Skandal zeigt, wie groß die Deutungsmacht sozialer Medien ist – und wie unterschätzt.

30.000 Klicks hat das Video bereits. "BITTE ANSEHEN UND TEILEN". Ton hört man keinen, die Bilder reichen ohnehin: eine Frau, die von arabisch aussehenden Männern bedrängt wird, sie wehrt sich, sie schreit. Darunter steht "Stoppt den Asylwahn", ebenso wie "aktuelles Video aus Köln, das die Presse uns vorenthalten will."

Ob viele der 30.000, die das Video gesehen haben, es geglaubt und verbreitet haben? Vermutlich. Denn echt ist es, nur stammt es nicht aus Köln. Es wurde vor vier Jahren am Kairoer Tahrir-Platz aufgenommen.

Mehrfach-Fehlleistung

Falschinformationen wie diese kursieren derzeit viele durchs Netz. Sie sind ein trauriger Beleg dafür, wofür die Skandalnacht von Köln neben all ihrer menschlichen Grausamkeit noch steht: Für eine Fehlleistung – der Behörden, der Berichterstatter, der am Skandal Interessierten.

Dadurch, dass die Polizei ihre Arbeit nicht so machte, wie sie hätte sollen, dass sie nicht informierte, wie die Medien es gewohnt waren, entstand ein Vakuum. Die Polizei hielt die Information, dass die Täter vielleicht Flüchtlinge waren, zurück; die Medien berichteten nicht.

Aber die sozialen Medien taten es. Der Echoraum, den Facebook, Twitter und Co. für die etablierten Medien darstellen, fungierte hier nicht als Verstärker, sondern als Tonangeber. Er entfaltete seine Wirkung zweifach – er brachte nicht nur an die Oberfläche, was passiert war, sondern ließ auch massenhaft Mutmaßungen gedeihen.

Ping-Pong

"Lügenpresse" und "Propaganda-Staatsfunk", hieß es da, weil vier Tage nach den Übergriffen noch kaum große Medien berichtet hatten. Die Antwort war oft gleichermaßen kurzsichtig wie die Vorwürfe. Weil die Faktenlage unzureichend war, der Druck aber groß, ließen sich viele Medien zu Schnellschüssen hinreißen, die im Pingpong mit den sozialen Medien ihr Eigenleben entwickelten. So wurden aus den 1000 pöbelnden Menschen am Hauptbahnhof 1000 grapschende Angreifer; in den schlimmsten Fällen 1000 Opfer. Heute spricht die Polizei von 32 Tatverdächtigen, die sich aus der Gruppe der 1000 gelöst und Frauen bedrängt hätten, davon 22 Asylwerber.

Es ist beinahe ironisch, dass Medien, weil sie dem Vorwurf der Lügenpresse ausgesetzt waren, selbst Falschinformationen verbreiteten – und dass manche, die kürzlich noch das Selbstvertrauen hatten, nicht ganze Gruppen für die Taten Einzelner verantwortlich zu machen, von dieser Maxime abrücken. Traurig ist aber auch, dass dies jenen Macht verleiht, die aus dem Verlust der medialen Deutungshoheit politisches Kapital schlagen – rechtsgerichtete Publikationen wie Kopp online oder Compact, die schon immer gewusst haben wollen, was falsch läuft.

Gefährlich ist dabei aber nicht, dass es diese Art der Gegenöffentlichkeit gibt, sondern, dass sie die Grenzen zwischen Fakten, Meinung und Propaganda verwischt. Die jüngste Ausgabe von Compact, das in einer Auflage von 75.000 Stück erscheint, trägt den Titel "Asyl. So kommt der Bürgerkrieg zu uns"; das ist Angstmache, die im Mantel scheinbar fundierter Recherche daherkommt – und wirkt. Jeder fünfte Deutsche hat kein Vertrauen mehr in die etablierten Medien.

Mob und Gegenmob

Diese Ablehnung, gepaart mit Wut und Zorn, ergießt sich dann in Online-Foren. Im Fall Kölns wütete dort ein Gegenmob, dessen Aussagen in puncto Strafbarkeit denen des Kölner Mobs kaum nachstand. Da blieb wenig anderes über als zu löschen – oder die Kommentarfunktion zu unterbinden.

Der Kreislauf, der daraus entsteht, ist fatal. Denn zum Lügenpresse-Vorwurf kommt dann noch jener der Zensur. Überall ist zu hören, dass man nicht sagen dürfe, was gesagt werden müsse.

Dass das nicht stimmt, beweist gerade Köln. Denn ohne die sozialen Medien wäre das fatale Vakuum, das die Behörden entstehen ließen, nicht so schnell gefüllt gewesen – ohne sie hätte aber auch der Diskurs nie so eine radikale Richtung genommen.

Bleibt zu hoffen, dass man daraus lernt. Denn dass Nicht-Information im Jahr 2016 nicht funktioniert, hätten alle Beteiligten wissen können.

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