Der aktuelle Feminismus hintergeht den ursprünglichen Feminismus. In ihrem bewundernswerten Buch „Ein Zimmer für sich allein“ schrieb Virginia Woolf, wenn Shakespeare eine Schwester gehabt hätte, wäre ihr ein Ort verwehrt geblieben, um ihr Genie auszuleben. Inzwischen verfügen Frauen über einen solchen Ort, über ein Zimmer für sich allein, aber das reicht ihnen nicht. Sie haben in jeder Hinsicht alles erreicht. Kein einziger Bereich bleibt ihnen verwehrt. Es gibt Richterinnen, Diplomatinnen oder Kriegsreporterinnen und das ist sehr begrüßenswert. Frauen sind frei, sich scheiden zu lassen und finanziell absolut unabhängig. Das Patriarchat ist bei uns im Westen tot. Ich befürchte allerdings, dass es sich bei dem angeblichen Kampf um Gleichberechtigung in Wahrheit um die besten Plätze dreht. Die Männer sollen mehr und mehr weichen.
Vertreten Sie wirklich die Ansicht, dass wir absolute Gleichberechtigung haben? Lassen sich Unterschiede bei den Gehältern, den Karrierechancen oder der Rollenverteilung im Haushalt und bei der Kinderbetreuung nicht auf das Weiterleben patriarchaler Strukturen zurückführen?
Nein, das denke ich nicht. Die heutige Gleichberechtigung wurde hart erkämpft. Wir befinden uns am Ende eines Prozesses der Gleichstellung innerhalb der Familie. Paare handeln die Aufgabenverteilung im Haushalt miteinander aus. Ich bin eher verblüfft über die unglaubliche Veränderung, die sich innerhalb weniger Jahrzehnte vollzogen hat. Wenn eine Frau in Frankreich heute laut sagt, dass sie Hausfrau und Mutter ist, erntet sie abschätzige Blicke. Das ist furchtbar, denn es handelt sich doch um ihre persönliche und vielleicht auch um eine sehr gute Entscheidung. Früher war das ein Schicksal, meine Mutter beispielsweise hatte diese Wahl nicht.
In Ihrem Werk kritisieren Sie auch die aus den USA kommende Woke-Bewegung, die sich auf manchmal umstrittene Weise gegen Diskriminierungen stark macht. Warum?
Mir ist unbegreiflich, wie sich heutige Theater- oder Opern-Regisseure erlauben können, frühere Werke zu korrigieren und nach Gutdünken zu aktualisieren. Sie scheinen zu glauben, dass sie mehr über die menschliche Welt wissen als deren Autoren. Aber wir haben doch keine Lehrstücke zu geben. Keine Epoche war je sensibler als die unsere. Diese Art der Selbstgefälligkeit und Unbescheidenheit macht die Literatur beliebig. Sie wird berichtigt, ob es um Mark Twains „Abenteuer des Huckleberry Finn“ geht oder um Werke von Agatha Christie. Wir haben uns der staatlichen Zensur entledigt, um eine neue Form der Zensur aufkommen zu lassen. Das ist bezeichnend für eine Epoche, in der man glaubt, keine Literatur mehr zu brauchen, weil man sich für intelligenter als die Literatur der Vergangenheit hält.
Ist es nicht nachvollziehbar, wenn Schwarze sich durch den Einsatz des N-Wortes verletzt fühlen?
Sehen Sie, ein Teil der französischen und europäischen Literatur ist vom Antisemitismus geprägt. Denken Sie an Louis-Ferdinand Céline oder auch Honoré de Balzac. Aber deshalb werde ich als Jude doch nicht fordern, das zu korrigieren, um meine eigene Empfindsamkeit zu pflegen! Diese Bücher stehen da als das, was sie sind. Wir brauchen auch keine Fußnoten zur Erklärung. Werden wir den Titel des Meisterwerks „Der Nigger von der Narcissus“ von Joseph Conrad ändern? Wenn wir einmal anfangen zu zensieren, finden wir kein Ende mehr. All das zeugt von einer Epoche, die sich ihrer selbst zu sicher ist. In den Universitäten hat diese Ideologie leider auch überhandgenommen.
Ist literarische Schöpfung demnach nicht mehr möglich? Im Original lautet der Titel Ihres Buches „Nach der Literatur“, in der deutschen Übersetzung „Vom Ende der Literatur“.
Ich würde mir niemals anmaßen, das Ende der Literatur zu verkünden. Vielmehr geht es mir um die Frage: Was wird aus einer Gesellschaft, die keinen Platz mehr für eine literarische Weltsicht hat? Meisterwerke gibt es immer wieder, sie sind unvorhersehbar. Aber finden sie heute noch Leser? Können sie noch die Seelen der Menschen erziehen? Die ideologischen Bedingungen für die Literatur sind leider keine guten.
Auch Frankreich befindet sich in einer Krise. Die Proteste der Rentenreform von Präsident Emmanuel Macron dauern an, die Wut vieler Menschen ist groß. Wie blicken Sie auf diese Situation?
Ich verstehe nicht, was in meinem Land vor sich geht. Der Zorn auf die Rente mit 64 erscheint mir unverhältnismäßig, zumal die meisten körperlich anstrengenden Berufe von der Reform ausgenommen wurden. Gymnasiasten oder Studenten engagieren sich in dieser Bewegung, noch bevor sie ihren Beruf gewählt haben. Und all das, während vor unserer Tür ein furchtbarer Krieg tobt. Diese Gleichgültigkeit gegenüber den echten Herausforderungen der Welt und auch Frankreichs beunruhigt mich. Wir stehen vor großen Problemen wie dem Verfall unserer Schulen, die ihre Funktionen nicht mehr erfüllen, oder der Unfähigkeit, die Einwanderung zu kontrollieren.
Sehen Sie sich selbst in der Rolle eines mahnenden Intellektuellen?
Ich weiß nicht, worin meine Rolle besteht. Ich versuche, die Augen weit zu öffnen und mich an diesen wunderbaren Satz von Charles Péguy in „Unsere Jugend“ zu halten: „Man muss sagen, was man sieht. Aber was noch schwerer ist: Man muss sehen, was man sieht.“ Die Ideologie macht uns blind, indem sie die Realität mit einer großen Lügengeschichte ersetzt. Und ich versuche im Rahmen meiner Möglichkeiten zu sehen, was ich sehe.
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