Afghanistan-Wahl: Zwischen Sicherheit und Sinnhaftigkeit
Das Chaos ist vorprogrammiert. Und ebenso die Gewalt. Heute wählen die Afghanen zum dritten Mal seit dem Sturz der Taliban Ende 2001 ein neues Parlament. Mit drei Jahren Verspätung. Ein Streit um das Wahlrecht hatte den Urnengang verzögert – was aber nicht bedeutet, dass die ohnehin schwachen afghanischen Behörden jetzt vorbereitet in die Wahl gehen würden.
Die Wochen vor dem Urnengang im Schnelldurchlauf: Attentate auf Kandidaten, Angriffe der Taliban auf breiter Front gegen Checkpoints afghanischer Sicherheitskräfte; dann die überraschende Meldung der Wahlkommission, nur an Geräten zur biometrischen Wählererkennung abgegebene Stimmen auszählen zu wollen - wobei diese Geräte in zahlreichen Wahlstationen am Tag vor der Wahl aber noch nicht vorhanden waren und Wahlhelfer nicht eingeschult wurden; Meldungen über schwerwiegende Eingriffe bei der Wählerregistrierung und dann ein tödlicher Anschlag auf einen einflussreichen Polizeikommandanten sowie den Geheimdienstchef Kandahars. Bei einem UN-Treffen in Genf im November sollen die Wahlen als Gratmesser für den Zustand der Demokratie in Afghanistan herangezogen werden. Die Vorzeichen für eine positive Begutachtung stehen schlecht.
Vergeben werden bei der Wahl die 249 Sitze im Unterhaus. 2500 Kandidaten bewerben sich. Wahlberechtigt sind 8,9 Millionen Menschen. Weite Gebiete des Landes sind aber unter Kontrolle der Taliban, die vor dem Urnengang eine eindringliche Warnung aussprachen: Schul-, Spitals- oder Universitätsleiter sollten sich davor hüten, ihre Gebäude als Wahllokale zur Verfügung zu stellen, die Afghanen sollten die Wahl boykottieren. Angekündigt wurden Angriffe auf Wahllokale und Straßenblockaden. Rund 2000 Wahllokale sperrten wegen Sicherheitsbedenken schon nicht einmal auf. In der Provinz Kandahar, einer Hochburg der Taliban, wurden die Wahlen nach dem Attentat auf den Polizei- und den Geheimdienstchef nur einen Tag vor der Wahl um eine Woche verschoben.
Für Afghanen ist die Abgabe der Stimme damit ein Abwägen zwischen eigener Sicherheit und Sinnhaftigkeit. Der letzte große Urnengang, die Präsidentschaftswahl 2014, war von schwerwiegenden Fälschungsvorwürfen überschattet, die nie restlos aufgeklärt wurden. Heraus kam eine mehr schlecht als recht funktionierende Doppelspitze der beiden stärksten rivalisierenden Kandidaten. Die Korruption grassiert weiter. Erwartet wird daher eine äußerst geringe Wahlbeteiligung.
Aufstreben des IS
Aber nicht nur das: Zwischen 2014 und heute liegt das Ende der NATO-Mission ISAF, die zu ihrem Ende zwar nur mehr schwach vertreten war, den afghanischen Sicherheitskräften aber im Notfall entscheidende Hilfe im Kampf gegen die Taliban leisten konnte. Zwischen damals und heute liegt auch das Aufstreben des IS in Afghanistan, der zwar in Rivalität zu den Taliban steht, es aber schaffte, vor allem Kabul mit groß angelegten Anschlägen zu terrorisieren. Hinzu kommt die komplizierte Doppelspitze zwischen Präsident Ashraf Ghani und dem mit ihm rivalisierenden De-Facto-Regierungschef Abdullah Abdullah als Resultat der Wahl von 2014. Die wirtschaftliche Situation des Landes ist katastrophal. Die Arbeitslosigkeit ist enorm – angeheizt zusätzlich durch die sich verschärfende Wirtschaftskrise im Iran, wo bisher Hunderttausende afghanische Gastarbeiter den Unterhalt für ihre Familien verdienten. Diese Arbeiter kehren jetzt aus Mangel an Jobs zu Zehntausende wieder zurück.
Weite Teile des Landes sind heute unter Kontrolle der Taliban. Einige Gebiete vor allem an der Grenze zu Pakistan werden vom IS kontrolliert. Die Hauptstadt Kabul, die bis 2014 als einigermaßen sicher galt, ist heute trotz massiver Sicherheitsvorkehrungen nahezu wöchentlich Schauplatz großer Anschläge. Die Folge: Überall im Land bilden sich wieder lokale Milizen, was von der Zentralregierung aus Mangel an Alternativen zum Teil auch unterstützt wird, zugleich aber das staatliche Gewaltmonopol untergräbt.
54.000 afghanische Sicherheitskräfte sollen die heutige Wahl sichern. Wie es um die bestellt ist, zeigen aber die jüngsten groß angelegten Angriffe der Taliban auf deren Kontrollposten: Die wurden zum Teil von hunderten Taliban überrannt, die dabei schwere Waffen und Fahrzeuge erbeuten konnten. Solche Großangriffe waren bisher selten. Die Polizisten und Soldaten sollen zum Teil chaotisch geflohen sein. Afghanische Stellen konnten nicht einmal genaue Opferzahlen nennen.
Und die internationale Gemeinschaft? Die betrachtet die Lage in Afghanistan nach 18 Jahren militärischem und zivilem Engagement achselzuckend. „Wir versuchen eine schreckliche Situation etwas weniger schrecklich zu machen“, so ein westlicher Diplomat über internationale Finanzhilfe für die afghanische Regierung.
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