Kunduz wird für Kabul zur Existenzfrage

Der Krieg um die Stadt tobt – dabei profilieren sich die Taliban gegenüber der schwachen Regierung.

Es war ein denkbar kurzer Weg von der Wiederaufnahme von Luftschlägen bis zum Einsatz von Bodentruppen. Mit einem Schlag ist die NATO wieder voll involviert im Krieg in Afghanistan. Am Mittwoch kamen Spezialkommandos der USA, Großbritanniens und Deutschlands in Kunduz an, einer Stadt, in der dieser Tage die gesamte Misere der inner-afghanischen Probleme und der ausländischen Intervention kumuliert. Fazit nach drei Tagen: Die Taliban in Allianz mit dem Haqqani-Netzwerk haben die Stadt besetzt; damit aber nicht genug, greifen sie laufend den Flughafen der Stadt an, die wichtigste Drehscheibe für den Nachschub aus der Luft für afghanische und jetzt auch NATO-Einheiten, die Kunduz an sich zurückerobern sollen – offenbar aber eher in der Defensive sind.

Eingekesselt

Auf dem Landweg wiederum waren Armee-Konvois, vor allem aus dem Süden kommend, massiv angegriffen und in Hinterhalte gelockt worden. Eine Versorgung über Land ist daher derzeit nicht möglich. Am Mittwoch hieß es, der Flughafen und ein kleines umliegendes Gebiet seien die letzten Regionen unter Regierungskontrolle in dem Talkessel. Schon jetzt können die Taliban in Kunduz einen entscheidenden und vor allem symbolträchtigen Sieg verbuchen – nach mehr als einem Jahrzehnt im Untergrund. Die wichtigste Botschaft der Taliban an Anhänger wie Gegner lautet: Wir sind alles andere als geschlagen.

Dabei hatten die Taliban zuletzt massive Probleme: Erst einmal generell der Ruf, verlängerter Arm des pakistanischen Geheimdienstes zu sein; dann das Bekanntwerden des zwei Jahre zurückliegenden Todes von Taliban-Gründer Mullah Omar und damit verbundener Vertrauensverlust in der Anhängerschaft; schließlich Turbulenzen um Omars Nachfolger Mullah Mansour, dem zahlreiche Feldkommandanten zunächst die Gefolgschaft verweigerten. Und: Harte Konkurrenz durch den "Islamischen Staat" (IS), der auch in Afghanistan Fuß fasst und dabei gezielt die Konfrontation mit den Taliban sucht.

Mit der Aktion in Kunduz aber hat Mullah Mansour seine Führungsposition gefestigt, gegenüber dem IS einen Propaganda-Coup gelandet und die Taliban wieder als Hauptopponent der Regierung in Kabul etabliert. Aber vor allem: Sie haben den Preis für einen Ausgleich (an sich laufen ja Friedensgespräche) mit der Regierung in Kabul in die Höhe getrieben. Dabei kommunizieren die Taliban ihre Gründerwerte: Erzkonservativer Islam und Verteufelung von Korruption, gepaart mit etwas Nationalismus. All das inmitten wachsenden Unmuts über Korruption und Misswirtschaft.

Regierung in der Kritik

Entsprechend wächst der Druck auf die Regierung in Kabul. Für Donnerstag waren Kundgebungen in der afghanischen Hauptstadt geplant. Hauptangriffspunkt: Die offensichtliche Unfähigkeit der Regierung in Kunduz. Abaceen Nasimi vom Forschungsinstitut Duran in Kabul sagt, der Gouverneur, der Polizeichef sowie der Geheimdienstchef der Provinz hätten Kunduz noch vor dem Angriff der Taliban in der Nacht auf Montag verlassen. Der Aufmarsch der Taliban um die Stadt sei offensichtlich gewesen. Polizei und Armee seien ohne Befehle zurückgelassen worden. Nasimi zieht den Vergleich mit Mossul im Irak, das im Handstreich vom IS übernommen worden war. Und ebenso wie der IS in Mossul hätten auch die Taliban in Kunduz große Mengen an Waffen erbeutet.

Für die Regierung in Kabul ist dabei genau dieser Punkt besonders gefährlich: Lokale Seilschaften, die undurchschaubar und sehr oft stärker sind als der afghanische Staat. Anders gesagt: Abzeichen und Uniformen sagen sehr oft gar nichts aus über wahre Loyalitäten.

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