95. Geburtstag: „Schmidt Schnauze“ in Hochform

Ohne seine geliebten „Reyno“-Zigaretten geht’s nicht – damit darf Helmut Schmidt sogar ins Fernsehen
Der Alt-Kanzler meldet sich immer häufiger zu Wort und wird von den Deutschen geliebt

Dass sich ein Schauspieler für eine Filmrolle das Rauchen wieder angewöhnen muss, ist ungewöhnlich. Denn der Qualm ist im TV und auf der Leinwand längst nicht mehr salonfähig. Aber Ludwig Blochberger ist einer von fünf Schauspielern, die in einem 90-minütigen Dokuspiel Helmut Schmidt darstellen. Und der deutsche Altkanzler ohne Zigarette, das geht gar nicht. Immerhin ist er der Einzige, der bei Fernsehinterviews und Talkshows rauchen darf – sonst käme er gar nicht.

An diesem Montag begeht „Schmidt Schnauze“, wie der gebürtige Hamburger wegen seiner brillanten und scharfen Formulierungen genannt wird, seinen 95. Geburtstag. Gerade erst wurde der 100er seines längst verstorbenen Amtsvorgängers Willy Brandt, der Ikone der deutschen Sozialdemokraten, in Medien und bei Veranstaltungen rauf und runter gefeiert. Schmidt selbst lässt ausrichten, dass er seinen Geburtstag im kleinen Kreis in seinem Doppelhaus im Norden Hamburgs feiere und sonst keine Aufmärsche wünsche. Und so ist die Ausstrahlung des Films „Helmut Schmidt – Lebensfragen“ sozusagen die einzige öffentliche Geburtstagsbegehung.

Äußerst selbstbewusst

Dabei ist Bescheidenheit die Sache Schmidts ja nicht gerade. Je älter er wird, desto intensiver meldet sich der SPD-Kanzler der Jahre 1974 bis ’82 mit Büchern, Interviews und Aufsätzen in der Zeit, deren Herausgeber er ist, zu Wort. Der schon in seiner Aktivenzeit überaus selbstbewusste – Kritiker sagen: in die eigene Intelligenz verliebte – Schmidt äußert sich zur Weltpolitik, zu Europa, zur Wirtschaftskrise und zur deutschen Politik. Peer Steinbrück als SPD-Kanzlerkandidat war seine „Erfindung“, er hatte ihn in Front gebracht, als in der Partei die Kandidatenfrage noch lange offen war. Im Übrigen hält er vom politischen Personal weltweit seit Giscard d’Estaing und Winston Churchill wenig. Und zur Großen Koalition zwischen Union und SPD sagte er schon 2005: „Das gegenwärtig zur Verfügung stehende Personal ist nicht sonderlich geeignet, gemeinsam zu regieren, weil beide Seiten nicht ausreichend wissen, was sie wollen.“

Das bewegte Leben des Helmut Schmidt:

95. Geburtstag: „Schmidt Schnauze“ in Hochform

FILE GERMANY PEOPLE SCHMIDT
95. Geburtstag: „Schmidt Schnauze“ in Hochform

Brandt, Schmidt und Wehner
95. Geburtstag: „Schmidt Schnauze“ in Hochform

GERMANY REUNIFICATION HELMUT SCHMIDT
95. Geburtstag: „Schmidt Schnauze“ in Hochform

GERMANY-POLITICS-SCHMIDT-OBIT

Viele halten die Omnipräsenz des Altkanzlers für nervig – etwa der Spiegel, der vergangene Woche unter dem Titel „Der Weisheit letzter Stuss“ die vom Balkon dozierenden Altpolitiker mit Schmidt an der Spitze durch den Kakao zog – unter anderem mache sich Schmidt gerade gegen Waffenlieferungen für Saudi-Arabien stark, die er als Kanzler noch befürwortet hatte. Dass die Kritik just zum Geburtstag kommt, liegt aber auch an der Konkurrenz des Spiegel zur Zeit des Helmut Schmidt.

„Coolster Kerl“

95. Geburtstag: „Schmidt Schnauze“ in Hochform
Former German Chancellor Helmut Schmidt leaves the Hauptkirche Sankt Michaelis (church of St. Michael) after the funeral service for his wife Hannelore 'Loki' Schmidt in the northern city of Hamburg, November 1, 2010. Hannelore "Loki" Schmidt, died aged 91 on October 21, 2010. REUTERS/Morris Mac Matzen (GERMANY - Tags: POLITICS IMAGES OF THE DAY OBITUARY)
Die Deutschen lieben ihn. Seine geschliffenen, druckreifen Formulierungen zwischen langen Nachdenkpausen sind immer auf den Punkt gebracht und haben Kultcharakter (es gibt CDs davon). 2008 wurde Schmidt zum „coolsten Kerl Deutschlands“ gewählt, und selbst in einer Spiegel-Umfrage nach den moralischen Instanzen des Landes landete er mit großem Abstand auf Platz eins. Da konnte kein Papst, kein Günter Grass oder kein anderer deutscher (Alt-)Politiker mithalten.

Ein Held wurde Schmidt den Deutschen vor einem halben Jahrhundert: 1962, bei der verheerenden Hamburger Sturmflut, pfiff er sich als Hamburger Innensenator nichts und beorderte eigenmächtig die Bundeswehr herbei. Damit verhinderte er Schlimmeres als die ohnehin mehr als 300 Toten der Flut.

Fünf Jahre später Fraktionsvorsitzender der SPD, dann Verteidigungs- und später Finanzminister der Kabinette Willy Brandts wurde er nach dem Rücktritt Brandts (Guillaume-Affäre) 1974 Bundeskanzler. Und schon bald wurde das Diktum geprägt, er sei der „richtige Kanzler in der falschen Partei“. Denn mit linker Linientreue hatte er nie etwas am Hut. Das stand auch hinter dem steten subkutanen Konflikt zwischen Brandt und Schmidt, der Ersterem einmal zu dessen Wahlkampf-Visionen den berühmten Satz ausrichtete: „Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen“.

Die Amtszeit des Hamburgers, der „spitze Steine“ heute noch hamburgerisch ausspricht, war geprägt von der Ölkrise der Siebzigerjahre; vom Nato-Doppelbeschluss, dessen Raketenaufstellung auf deutschem Boden letztlich die sowjetische Aufrüstung zum Überhitzen brachte und den Beginn vom Ende der UdSSR einleitete; von der Weichenstellung gemeinsam mit Giscard d’Estaing für die Einführung einer gemeinsamen europäischen Währung; und vom Terror der RAF .

Späte Versöhnung

Bei der Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer verweigerte er Verhandlungen mit den Links-Terroristen – nach sechs Wochen war Schleyer tot. Die Versöhnung mit der Familie erfolgte erst heuer im Frühjahr, als Schmidt den Hanns Martin Schleyer-Preis erhielt: „Mir ist sehr klar bewusst, dass ich – trotz aller redlicher Bemühungen – am Tode Hanns Martin Schleyers mitschuldig bin.“

Als sein Koalitionspartner FDP und deren Außenminister Hans-Dietrich Genscher 1982 fliegend zur CDU/CSU wechselten, beendete Schmidt seine politische Karriere und wurde ein Jahr später Herausgeber der Zeit.

Erst vor drei Jahren verlor der passionierte Segler und Klavierspieler, der selbst keine Musik mehr hören kann, weil fast taub, seinen Lebensmenschen: Ehefrau Loki, seine Klassenkameradin, die er noch als Soldat der Wehrmacht geheiratet hatte und mit der er 68 Jahre verheiratet war, starb 91-jährig im Oktober 2010. Heute bekennt sich Schmidt zu seiner Beziehung mit seiner Ex-Mitarbeiterin Ruth Loah.

„Wisst Ihr eigentlich, wie gut es Euch geht?“, fragte Schmidt vor ein paar Jahren im großen KURIER-Interview und analysierte messerscharf, wie Österreich bis dahin durch die Krise gekommen war. Während dieses knapp eineinhalbstündigen Gesprächs rauchte er acht Zigaretten, unterbrochen von ein paar Prisen Schnupftabak.

Seine Ärzte haben ihm übrigens geraten, jetzt nicht mehr mit dem Rauchen aufzuhören: Das gesundheitliche Risiko durch die Umstellung wäre zu groß. Also hat sich Schmidt angeblich 200 Stangen seiner geliebten „Reyno“-Zigaretten auf Vorrat gekauft, weil die EU ja Mentholzigaretten verbieten will. Die gute Nachricht kam just wenige Tage vor Schmidts 95er: Das Verbot soll erst 2020 gelten.

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